Samstag, 24. Januar 2009
Von Lemmingen, Zynikern und Fanatikern

Die 30iger von heute sind größenwahnsinnig, arrogant, hochstaplerisch, verdruckst, bindungsunfähig, harmoniesüchtig und immer nach der Suche nach dem Echtem. Ihre Realität erleben sie nur als Zwischenstadium, als Fahrstuhlaufenthalt auf dem Weg – ja nach wo eigentlich. Die 30iger sind entgültig in ihrem Urteilen, ihrem Wollen, ihrem Nichtwollen und das Ganze wird ständig neu gemischt, befragt, hinterfragt, abgelehnt, eingefordert. Die 30iger sind nicht wirklich ideologisch, nicht wirklich verlogen, nicht wirklich ablehnend, sie schrammen aber immer ein ganz klein bisschen an der Wirklichkeit vorbei und das nur deshalb, weil sie ihre Wirklichkeit nicht so ganz annehmen und immer auf eine andere Wirklichkeit schielen. Die 30iger von heute schreiben genauso verschrobene Texte wie diesen, voll Larmoyanz, voll kokettierender Selbstgerechtigkeit.

Ja es gibt auch die gebundenen, verheirateten, Kinderhabenen 30jährigen, doch die sind überhaupt nicht echt, nur Abziehbilder ihrer eigenen Rollensuche, im schlimmsten Fall in ihren Rollen aufgehend. Sie werden von den richtigen 30jährigen immer mit Missgunst, Neid, Verachtung, Misstrauen betrachtet. Die richtigen 30jährigen verehren Nick Hornby, Frederic Beigbeder und wenn historisch bewandert, Remarque, Wiechert und Houllebecq. Manche lesen auch Krimis. Aus all ihrem Tun machen sie aber ein Dogma.

Die richtigen 30iger sind bindungsunfähig, lieben aber das Leiden in der Verliebtheit, wobei sie selbst nicht wissen, ob dabei auch das Gegenüber eine Rolle spielt, oder ob es nur um das Gefühl geht. Denn die 30iger sind natürlich egoistisch. Wenn sie sich irgendwie engagieren, dann nur aus Selbstzweck und zur Steigerung des Egos. Denn der 30iger verachtet jede Form von Fanatismus , sei er religiöser, politischer oder humanitärer Natur. Der 30iger sehnt sich nach Gesellschaft und pflegt doch das Image des rast- und ruhelosen Wolfes, gespickt mit Zitaten des Goetheschen Wandlers und Wallers auf Erden, wobei daraus oft ein Schwallen, ein Schwelgen wird. Der 30iger läuft immer Gefahr, sein Umfeld zu durchleuchten und zu definieren. Bloß nicht 1:1 in ein Gefühl. Besser das Gefühl durch Beschreibung auf Abstand, unter Kontrolle zu halten.
Die 30iger sind Zyniker, Satiriker, Sarkasten, sie erfinden eigene Begriffe, eigene Sprachen, sie betreiben Wortakrobatik und programmieren Internetseiten,

- auf denen Warmduscher und Schattenparker-Begriffe gesammelt werden

- auf denen alle Worte aufgelistet werden, die auf nf enden (5 Stück an der Zahl)

- die sich lustig machen über die Fülle bekloppter Aphorismen (Weiße Tauben träumen von der Freiheit, wilde Tauben fliegen, nur wer sich bewegt spürt seine Ketten, Träume nicht Dein Leben, lebe Deinen Traum),

- auf denen Sprachverhunzung betrieben wird (herzlichen Glühstrumpf, das kann ja wohl nicht Warstein, zum Bleistift, bis Danzig, etc.)

30jährige aus dem Westen fahren nicht in den Osten, 30jährige aus dem Osten lassen sich ihren Dialekt wegoperieren.

Sie haben es gemerkt, hier schreibt die Blaupause eines 30jährigen, der wie viele 30iger die Botschaft hat alle zu verspotten, die eine Botschaft haben. Seit drei Jahren bin ich der Prototyp eines 30jährigen. Ich sehe gut aus, ich bin groß genug, ich verliere langsam meine Haare, trage eine Intellektuellenbrille, aus kräftigem Kunststoff, unten randlos. Ich trage gerne dunkel, aber nicht zu auffällig und bloß keine schwarzen Rollis. Ich treibe regelmäßig Sport, habe schon fast den Ansatz eines Waschbrettbauches, ich küsse gut und mir wird eine ungewöhnlich weiche Haut nachgesagt. Ich träume von Sex in allen Variationen, bin im Bett nur guter Durchschnitt und habe bereits eine Therapie hinter mir.

Ich hasse fast nichts mehr als 30jährige, die über sich und ihre Generation reflektieren. Oder genauer gesagt, die das alles für aufschreibenswert oder gar veröffentlichungswert halten. Ich mag das Polarisieren in der Sprache, spreche viel von Hass und Verachtung und dergleichen und habe mich noch nie zu einer anständigen Prügelei durchringen können. Ich habe selbstverständlich Zivildienst gemacht, selbstverständlich gegen den erklärten Wunsch der Familie, ich bin kein Einzelkind, ich komme aus scheinbar geordneten Verhältnissen und ich war schon mal 3 Monate in Indien, ein Trip mit dem man nach wie vor Eindruck schinden kann. Ich schreibe seit einigen Jahren und habe mir jetzt einen gewissen, geschliffenen Stil angewöhnt.

Eigentlich müsste dieser Text gar nicht geschrieben werden, weil all das worüber ein durchschnittlich begabter Mensch so reflektiert schon tausende Mal reflektiert, besprochen und beschrieben wurde. Ich werde also nicht schreiben über die heutige Talkshow-Kultur, ich werde mich nicht lustig machen über das traurige Schicksal der Alt-68iger, ich werde nicht über Kultprodukte wie Nutella, Twix und was auch immer sinnieren. Ich mache ein größeres Fass auf. Ich stelle Ihnen und mir die Frage, wo kommen wir her, wo gehen wir hin.
Müdes Abwinken ? Nein bitte nicht. Denn wir leben in einer Zeit des Scheiterns. Wir sind alle gescheitert. Und wenn der Mensch nicht mit der Gabe des Selbstbetrugs gesegnet wäre, käme es zum Massensuizid.

Es gibt drei Sorten von Menschen: Die Zyniker (oder auch Sarkasten - je nach Tagesform), die Fanatiker und die Lemminge. Die Zyniker sind die ängstlichsten und nicht in der Lage, sich in irgendetwas fallen zu lassen. Sie sind immer auf der Hut, sie verstecken sich hinter geschliffenen Worthülsen, sie verachten alles Etablierte, und manchmal sehnen sie sich auch danach, das bringen sie aber laut und polternd zum Ausdruck. Die Fanatiker sind die, die an das glauben, was sie tun. Sie sind weit von der Realität entfernt. Sie kämpfen gegen Aids in Afrika und anderswo, für Menschenrechte, gegen Sozialhilfebetrug, sie sind überzeugte Christen oder noch überzeugtere Atheisten, sie dulden keinen Widerspruch und wissen nicht, wo man beim Auto den Ölstand kontrolliert. Ohne sie gäbe es kein Brot für die Welt, kein Attac, kein Rettet die Wale und die Delfine, keinen Dieselkatalysator und kein Verachten der Käfighaltung. Sie kommen mit der Welt nicht zurecht und haben sich deshalb in ihrem Bestimmungsraum eingeschlossen. Und die Lemminge ? Sie sind das Salz in der Suppe der Finanzminister, der Auto- und Videorekorderhersteller, der Touristikbranche, der Fitnessbranche. Die Lemminge erst machen Staaten möglich. Die Lemminge sind nicht in der Lage Zyniker oder Sarkasten zu sein, die Fanatiker sind die Unberührbaren und die Zyniker halten sich die Karriere der Lemminge und der Fanatiker immer offen. Sie haben noch die offenste Zukunftsprognose.

Wie wird man ein überzeugter Zyniker? Man muss ein großes Potential an Halbbildung mitbringen, am besten aus allen Bereichen, Sport, Musik, Religion, Genussmittel, Gesetzesübertretungen, Politik, Geschichte. Man sollte mit allem, über das man sich auslässt, Berührungspunkte gehabt haben, dort aber nicht zu sehr oder wenn nur kurze Zeit aufgegangen sein. Man muss frühzeitig die Chance bekommen haben, in vielen Bereichen hinter die Kulissen der Scheinwelten geschaut zu haben. Das immunisiert vor Fanatismus. Wer einmal realisiert hat, dass Bagwhan 100 Rolls Royce fuhr und die von seinen Anhängern finanziert bekam, der bewundert Baghwan maximal noch für seinen Geschäftssinn oder seinen Autogeschmack und stellt bescheiden fest, dass es einem selbst schon reichen würde, einen Rolls Royce zu fahren. Niemals aber würde man Anhänger von Bagwahn, anderen Gurus, man würde nie Sammler von Rabattkarten, kauft ungern Soundtracks von Filmen, auch kein Buch zum Film oder zur Serie und ist auch vor Playstations, Game Cubes, bunt bedruckten Sonnenschutzen für Autos, Markenrucksäcken oder CD Boxen nach der „Best of“ Manier gefeit.

Einer Gefahr unterliegen der Zyniker oder Sarkast allerdings immer: Der Angst vor Leere. Und je leerer das Sein, desto sarkastischer der Zyniker und desto zynischer der Sarkast. Im Gegensatz zum Lemming und zum Fanatiker muss sich der Zyniker seine Welt immer wieder neu erfinden, was auf Dauer natürlich anstrengt. Deshalb träumt der Zyniker auch immer davon „auszusteigen“, ein Akt, dessen Umsetzung aber an seinem Zynismus scheitert. Denn zu viele sind schon ausgestiegen. Zyniker schreiben auch eher Kurzgeschichten oder Gedichte, manchmal auch Lieder, selten aber Romane. Denn Zynismus ist ein flüchtiges Geschäft und bekommt schnell den Geruch des Abgestandenen. Die besten Romanciers sind die Fanatiker, die dann eben fanatische Romanautoren sind. In welchem Metier sie sich tummeln ist egal. Hemingway, Simmel, Konsalik, alles Fanatiker (und Geschäftemacher), was sie aber öffentlich nie zugeben würden, denn sonst wären sie Zyniker.

Wer jetzt aber meint, Zyniker hätten keine Seele, der ist auf dem falschen Pfad. Zyniker haben sogar viel Seele, viele Verletzungen und sie machen sich ständig sorgen um ihr Seelenheil, sind ständig auf der Sinnsuche. Diese Geschichten finden sie hier versammelt. Nicht die abgehobenen äußerlichen, sondern die die sich hinter der Fassade des Zynikers tummeln.

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Freitag, 23. Januar 2009
Kneipe

S + U- Bahnhof Warschauer Straße, 28.12.2008

Ich steige einfach aus, fühle mich vom Namen angezogen, vielleicht auch weil ich gerade die Aufzeichnungen eines Polen über Deutschland lese. Es ist unter Null Grad. Ich möchte ein Bier trinken und rauchen. In einer Kneipe! Da darfst Du bei der Wahl des Ortes nicht wählerisch sein. Ich verlasse den Bahnhof, biege von der Hauptstraße rechts ab, vorbei am Inder, am Türken und lande vor der „Hexe“. An der Eingangstür das Piktogramm mit einer nicht durchgestrichenen Zigarette!

In der Kneipe 6,5 Gäste. Der halbe zählt nicht, er liegt neben mir auf einem Sofa und schläft. Ein Rotgefärbter bearbeitet den Spielautomaten, die betrunkene Alte allein an der Theke, raue Stimme. Bier heißt hier Bierchen, die Gäste spricht die Wirtin mit Schätzchen an. Ein gewisser Günther und noch irgendjemand werden aufgefordert Dart zu spielen, von der Wirtin, mit den Worten: „Günter, jetzt bist Du dran mit Deiner großen Klappe.“ Deshalb kann er sich mit seiner großen Klappe nicht weiter auslassen über Treuhand, hohe Diäten und Effenberg „der Arsch, der war doch noch nie aufm Arbeitsamt“, so die Versatzstücke, die ich gleich zu Beginn auffange. Die Wirtin selbst scheint zu ihren besseren Kunden zu gehören. Vor die Wahl gestellt „Deutsches Pilsener“ oder „Löhner Bier“ – oder so ähnlich – empfiehlt sie mir das bessere, weil das andere schon im Glas stinke. Ich bestell das Bessere. Welches am Ende vor mir steht weiß ich nicht. Es schmeckt.

Wie immer in solchen Kneipen ist das Licht etwas schummerig, die Vorhänge vergilbt. Die Wirtin füllt mir den geschmacklosen Kerzenständer mit sieben Teelichtern auf, damit ich lesen kann. Die Alte hat keine eigene Meinung, sagt sie gerade, korrigiert sich aber „klar habe ich eine Meinung, die sage ich Euch aber nicht.“ Die Stimmung ist rau und herzlich, der Folk-Pop im Hintergrund beruhigt.

Mein Nachbar schläft immer noch auf dem Sofa.

Über mir ein Adventskranz. Überall, an den Wänden, an der Decke, über der Theke legitimieren Hexenpuppen den Namen dieser Eckkneipe im Ostteil der Hauptstadt. Die Stimmbänder aller Anwesenden haben sicher schon entspanntere Zeiten gesehen. Die Alte rastet kurz aus, weil sie der Wirtin nicht glaubt, dass in ihrem gerade abgeräumten Schnapsfläschchen nichts mehr drin war. Das Problem wird schnell mit einem neuen Kümmerling gelöst. Ich muss jetzt in dieser Kneipe sitzen, muss mich erstmal wieder erden. Bin nach den Feiertagen ein wenig angestrengt.

Günter soll sich seine Telefonnummer „irgendwohin schieben“, weil er sowieso nie dran geht. Er hatte nach eigenen Worten über Weihnachten fürchterliche Zahnschmerzen.

Der Verlierer bestimmt wer anfängt, „ob beim Skat oder beim Dart. Das ist überall so, überall“, beharrt Günter. Es ist ein lautstarker Thekenstreit ausgebrochen. Muss der Verlierer anfangen oder darf er bestimmen wer anfängt? „Anna will immer als Letzte anfangen, damit sie gewinnt. Die ist raffinierter als ihr denkt.“ Trudi widerspricht Günter, Trudi, die rauchige Alte. Sie wird gleich gemaßregelt. „Du bist hier nur eine einfache Kundin.“ „Günter Du redest Scheiße“, schlägt Trudi zurück. Ein Unbekannter fordert Ruhe. Ergebnis: Trude hat die Schnauze voll und trinkt erstmal einen Kümmerling. Günter schreit: “Halt die Klappe, du olle Kuh.“ Trude befürchtet, dass Günter einen Herzinfarkt bekommt und gibt ihm präventiv recht. Versteht keiner, dass Anna ihre Vorteile nutzt? Nur Günter ? Mein Nachbar schläft weiter. Günter bittet kleinlaut um eine Kopfschmerztablette. Die Kneipe füllt sich. Alle kennen sich.

Einer der Neuankömmlinge: „Hatten Weihnachten eine 4-Kilo-Gans für 16 Euro“ lässt sich von Günter erzählen, was zwischen ihm und Trude vor sich ging. Sein Kommentar: „Ihr seid verrückt, wegen einer solchen Scheiße. Aus dem Alter seid ihr doch raus.“ Bei Uschi gab es Grünkohl zu Weihnachten.

Meine freundliche Wirtin zapft mir noch ein Bier, Trude macht Miau-Geräusche und Günter sieht ein bisschen aus wie Wim Thölke. Die Wirtin informiert mich, dass das Bier noch ein wenig dauert. Trude wirft Günter einen Kuss zu und trinkt noch einen Kümmerling. Mein Nachbar schnarcht leise vor sich hin. Trude sitzt allein, die anderen stehen in der Gruppe. Mein Nachbar erwacht und begrüßt mich mit: Hi! Ich grüße zurück, er schläft wieder ein. Die anderen haben mich noch nicht wahrgenommen. Trudi führt Selbstgespräche und lacht sich kaputt. Dieter wirft angetrunken, aber zielsicher auf die Dartscheibe. Die Musik gefällt, es ist 18.15 Uhr, 28.12.2008 Trudi philosophiert über alte Schachteln und große Schachteln.

Mein Schlafnachbar heißt Conny und hat sich an die Theke geschleppt. Jetzt steht er da und zeigt mir seine totenkopfbedruckte Sweatshirtrückseite. Anna, die Wirtin, droht, solle er noch einmal einschlafen, „mache ich Dich zum Weibchen“. Günter und Dieter spekulieren, er schlafe hier, um Miete und Strom zu sparen. Das junge Pärchen neben mir, beide Raucher, beide Biertrinker, beide schweigen, schweigen, mit den Augen in Richtung Dartscheibe. Sie schweigen sich nicht an, sie schweigen in eine andere Richtung. Ich fühle mich wohl hier.

Neuer Spruch von Trude: „Ich bin zu klein, ihr seid zu alt, ich habe keine Angst.“

In der Hexe spielen vier Gäste Dart. Nach jeweils drei Würfen kehren sie zurück in ihre Gruppe, trinken und diskutieren. Der schweigende Biertrinker berät seine biertrinkende Partnerin in der richtigen Taktik.

Die Hexe ist eine dieser Kneipen, in der irgendwo Bilderrahmen hängen, gefüllt mit Fotokollagen der Stammkunden, an Weihnachten, Silvester, Ostern, was auch immer, immer die gleichen Gesichter, in unterschiedlichen Posen, unterschiedlicher Aufmachung.

Uschi putzt gerade die Klos. Conny trinkt Schwarzbier und wird von Dieter gefragt ob er schon wieder müde ist, „du Pfeife“. Günter, Schlips auf Hemd unter blauem Pullunder ist ruhig geworden. Das Herz? Auch von Trude kommt nichts mehr.

Dieter räumt ab beim Dart. Der Bierschweiger zieht nach, es folgen seine schweigende Partnerin und die Anna, die Wirtin. Dieter nur noch 24 Punkte, es wird auf Null gespielt. Der Bierschweiger ist auf 5, seine Frau auf 4. Was macht jetzt die Wirtin? Hat noch 74 Punkte. Jetzt noch 18. Macht Dieter das Spiel? Zweimal verworfen, auf 13.

Der Bierschweiger hat das Spiel gemacht. Neues Spiel, neues Glück. Es startet bei 501. Das Ziel ist immer Null.

Abschiedsworte der Wirtin: Es hoffe es Dir etwas gefallen bei uns. Es hat! Ich suchte eine Kneipe, wo ich rauchen kann!

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Obamarx

Obamarx

Warum blühen in Deutschland keine Zitronen, warum fährt mein Nachbar Porsche, ich aber nur Seat Ibiza und warum haben wir keinen deutschen Obama? Fragen, mit denen sich dieser Tage die Teilnehmenden jeder Talkshow herumquälen.
Haben uns die Amerikaner schon wieder überholt. Wie gut ging es uns mit Bush: Er führte Krieg, war für ein verrottetes Bildungs- und Gesundheitssystem verantwortlich und amerikanische Autos wollte auch keiner mehr kaufen. Wieso haben wir es nicht hinbekommen, einen türkischstämmigen Politiker zum Bundeskanzler zu machen? Mit Merkel sonnten wir uns in dem Bewusstsein, als erste einer der wichtigsten Nationen eine Frau an der Spitze zu haben, die sogar aus Ostdeutschland kommt. (Tschuldigung vergessen, Thatcher, ja, aber die hatte das Attribut "Die Eiserne" und wär wohl lieber Mann gewesen) Alles vorbei. Sie lächelt nicht, sie ist nüchtern und sie ist weiß, der Exotenbonus ist weg.
Dem (West-)deutschen Empfinden geht es immer gut, wenn wir uns am vermeintlich Schlechteren messen können. Was ging es uns im Kalten Krieg gut, als wir jedes Jahr schwarz auf weiß lesen konnten, dass wir dem Osten überlegen sind. Allerdings mussten wir uns all die Jahre vergleichen lassen und deshalb strengten wir uns besonders an. Danach? Sieger der Geschichte. Konsequenz: Mal auf die Straße schauen.

Aus vollem Bewusstsein konnten wir Missliebigen bis ´89 ein fröhliches „dann geh doch in Osten“ zurufen. Wer sich über mangelnde soziale Leistungen und soziale Kälte beklagt, dem hätten wir bei einer weiteren Amtszeit Bush (so sie möglich gewesen wäre) zurufen können „dann geht erst mal zum US-Amerikaner“. Schluss, aus, vorbei.

Verwundert reiben wir uns die Augen. Beschämt schauen wir auf „Ich bin deutsch und nüchtern“-Merkel, auf „Ich bin klein und gemein“-Sarkozy, auf „Ich mach mich unsichtbar“-Brown, auf „Ich bin immer braun“-Berlosconi und wie sie alle heißen, die blassen, weißen Politikerinnen und Politiker im alten Europa.

Und während wir noch spötteln und schmunzeln über den „schwarzen Heilsbringer“, nicht zu verwechseln mit dem „schwarzen Bomber“, macht sich dieser auf den Weg und spricht Klartext.

Gott schütze unser Land vor dem Tag, an dem Obama auf deutschen Audi umsteigt und ein Marx-Shirt trägt. Was bleibt uns denn dann noch? Noch haben wir Zeit - noch einmal Merkel - dann aber bitte eine türkisch-stämmige Kanzlerin, mit drei Kindern und zwei Hunden. Es wäre nicht das erste Mal, dass wir der Welt zeigen, dass wir die besseren Autobahnen bauen, etc. Bis dahin verbuchen wir Obama unter „Unfall der Geschichte“ und gehen in den Schrebergarten und merkeln über „die da oben“.

P.S. Satz der Woche: „Vor sechzig Jahren mussten die Neger im Bus noch hinten sitzen“. Vor sechzig Jahren liefen die Juden in Deutschland nicht mal mehr auf der Straße, geschweige denn besetzten sie Sitzplätze in Bussen.

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Dienstag, 20. Januar 2009
Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen


Eines Tages wachte er auf, stellte sich vor den Spiegel und beobachtete interessiert aber doch unbeteiligt die tiefen Augenringe, die sich in sein Gesicht malten. Im Spiegel ein leichtes missmutiges Kopfschütteln. Er drehte sich um, ging ins Wohnzimmer zum Regulator und stellte die Uhr eine Stunde zurück. Eine Stunde gewonnen. Eine Stunde gewonnen. Das ist nicht viel, das ist nichts, das sind paar Minuten aber immerhin. Das macht eine Stunde jünger.
Etwas gelangweilt lehnte er sich zurück, nahm eine Zigarette, ließ das Feuerzeug aufglühen und zog den Rauch tief in die Lungen. Er war jetzt in einem Alter, in dem es eigentlich kein Alter gab. Er war mit dem Zwischenalter gestraft, ihm war der Standpunkt wegradiert.
Er stand auf, ging einmal durch die vier Zimmer der Wohnung, schaute sich das Sammelsurium an, Ergebnis der Bewahrwut. Dann hielt er das Pendel der Uhr an, drückte die Zigarette in den überfüllten Aschenbecher, zog sich die Jacke über und schloss zweimal ab.
Als er schon das Ende der Straße erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und sah aus dem Fenster des Wohnzimmers eine starke Rauchwolke ziehen.

Den Kopf in den grauen Himmel gereckt spürte er den feinen Tropfenfilm, der sein Gesicht überzog. Die Tropfen vereinigten sich zu einem kleinen Rinnsal, der ihm in den Nacken floss. Er nahm seine Hände zur Hilfe, um so noch mehr Regen auffangen zu können. Er drehte sich einmal schnell um die eigene Achse, fand das aber albern und ging weiter, mal etwas schneller, mal etwas langsamer. Er griff in die Tasche nach den Zigaretten, doch die Schachtel war leer. Er zerknüllte die Packung zu einem kleinen Ball, warf ihn in die Luft und hätte ihn mit einem eleganten Schuss quer über die Straße befördert, wenn er nicht danebengetroffen hätte. Bald hatte er die Außenbezirke der kleinen Stadt erreicht. Menschen waren keine unterwegs, nur ab und zu überholte ihn ein Auto, mit rhythmisch zuckenden Scheibenwischern. Er kam an den Waldrand und tauchte hinein in den dunklen, baumbestandenen Raum. Es regnete jetzt so stark, das er sich nicht mehr die Mühe machen musste, Pfützen oder Matsch auszuweichen, denn alles war Pfütze und Matsch. Auf der rechten Seite tauchte in die Bäume geduckt ein grüner Bauwagen auf, wie ihn Waldarbeiter für ihre Pausen benutzen. Er ging dreimal um dem Wagen herum. Die Fenster des Wagens waren mit blechernen Läden verschlossen, vor der Tür hing ein Vorhängeschloss. Auf dem Bauwagen ragte ein Ofenrohr in die Höhe. Er rüttelte einmal an der verschlossenen Tür, er ging an die Wagenseite und versuchte den Blechladen aufzuziehen. Der Laden ließ sich öffnen. Dahinter eine fast blinde Glasscheibe, die er zur Seite schob. Er blickte einmal um sich, als wenn bei diesem Wetter jemand unterwegs gewesen wäre und schwang sich durch das enge Fenster ins Wageninnere. Rechts von ihm ein Tisch, und zwei Stühle. Auf dem Tisch ein altes Brot, einige leere Dosen Thunfisch und eine alte Zeitung. Daneben noch eine angebrochene Flasche Korn. Auf der linken Seite eine Motorsäge, Gummistiefel und an der Wand zwei Bauhelme. Außerdem ein gusseiserner Ofen, davor etwas Holz. Er setzte sich auf den Stuhl und suchte in seinen Taschen nach einer Zigarette. Er fand eine zerbrochene Zigarette, steckte sie sich in den Mund, ließ das Feuerzeug aufglühen und zog den Rauch tief in seine Lungen. In dem Raum war es kalt.
Den Zigarettenrest schnippte er Richtung Ofen, stand auf und öffnete die Ofentür. Darin noch Reste von Holzkohle und etwas angekohltes Papier. Er hielt das Feuerzeug an das Papier, das hell aufloderte und wieder in sich zusammenfiel. Er hob ein bisschen Holz auf und stopfte es in den Ofen. Dazu noch die Zeitung, die auf dem Tisch lag. Dann blickte er sich noch einmal in dem Raum um und entdeckte neben der Motorsäge einen Kanister. Er schraubte den Deckel auf und roch daran. Dann schüttete er etwas von dem Benzingemisch in den Ofen. Diesmal griffen die Flammen schnell auf das Holz über und als es aufloderte schloss er die Tür und rieb über dem Ofen die Hände aneinander, auch wenn es noch nicht warm war. Aber es knisterte etwas in dem Ofen. Er setzte sich wieder auf den Stuhl. Als es langsam warm wurde in dem Wagen, zog er seine Jacke aus und hängte sie über den zweiten Stuhl. Auch seine Schuhe zog er aus, stellte sie neben den Ofen, setzte sich wieder hin und legte die Beine auf den wackligen Tisch. Den Kopf in den Nacken gelegt, schaute er an die Decke.
Es war jetzt so warm in dem Bauwagen, dass er seinen Pullover auszog. Der Ofen glühte jetzt so stark, das um ihn herum die Luft zu flimmern schien. Er zog sich die nasse Jacke wieder an, stieg in seine Schuhe und verließ den Wagen, so wie er ihn bestiegen hatte, durch das Fenster. Nach einigen Hundert Metern hörte er ein lautes Krachen und sah beim Umdrehen eine große Stichflamme aus dem Bauwagen in den dunklen Waldhimmel schießen. Langsam ging er weiter, bis er den Waldrand erreichte und wieder Straße unter seinen Füßen spürte. Nach einigen Häusern am Straßenrand, die ihm mit ihren hell erleuchteten Fenstern den Weg wiesen, blieb er vor einem Zigarettenautomaten stehen, an dem gerade ein Mann mit Hund seine Münzstücke einwarf. Der Mann zog eine Schachtel heraus und warf erneut Münzen ein und ging mit zwei Schachteln und dem Hund weiter. Er suchte in seinen Taschen nach Münzen, warf sie ein und erhielt seine Zigaretten. Der notorisch klamme, aber auch notorisch mit schlechtem Gewissen geplagte Staat hatte die Schachteln neuerdings mit mahnenden Sprüchen bedrucken lassen. Beim Öffnen der Schachtel las er, dass Rauchen zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen könne. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, ließ das Feuerzeug aufglühen und zog den Rauch tief in seine Lungen. Als er in seine Straße einbog, sah er eine Kolonne von Feuerwehrfahrzeugen, die ihren Wasserstrahl auf die Wohnung richteten. Er schaute eine Weile von weitem zu, rauchte, drehte sich dann um und ging weiter. Als er die Zigarette austrat hatte er den Bahndamm erreicht. Er kletterte das Geröll hinauf und schaute nach rechts und links. Er griff wieder in die Schachtel und nahm sich eine Zigarette. Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen. Er rauchte jetzt schnell und hektisch. Am Horizont sah er die Lichter eines Zuges heranrasen. Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen. Das war das letzte, was er sich wünschte...

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Die Software des Lebens


Am Montag habe ich aufgehört zu sprechen, am Dienstag habe ich aufgehört zu hören, am Mittwoch habe ich aufgehört zu sehen. All diese fragwürdigen Fähigkeiten habe ich jetzt bewusst ausgeschaltet, nachdem sie mich zu oft im Stich gelassen habe. Schon zuvor habe ich nur das gesehen, was ich sehen wollte, habe nur selektiv hingehört und das, was ich gesprochen habe war viel zu oft nicht echt.

Wie viele Menschen gibt es, die in der Lage sind, ihre Sinnesorgane richtig zu bedienen, die von ihnen nicht allzu oft im Stich gelassen werden. Was ist mit dem Spüren, was ist mit dem lieben können, was mit dem Liebe empfangen können. Wie viele Menschen können noch vertrauen oder Vertrauen schenken, wie viele Menschen sind sich selbst gewiss?

Ich kann mir alle möglichen Softwarepakete auf den Computer laden. Wenn sie auf dem Computer sind, passiert erstmal nichts, so lange ich die Software nicht mit der .exe-Funktion aktiviere, um sie nutzen zu können. Wenn ich der Software überdrüssig bin, lösche ich sie über die Systemsteuerung. Jeder IT-Spezialist wird spätestens hier schmunzeln, denn für ihn wäre sie immer noch auffindbar, nur für mich als Durchschnittsuser ist sie weg.

Gehen wir mal davon aus, dass bei einem Neugeborenen die Software fertig installiert ist. Dann liegt es an der Umwelt, den Eltern, den Geschwistern, dem Umfeld diese zu aktivieren. Was aber, wenn einzelne Pakete nicht aktiviert werden oder bösartige Viren und Würmer aufgespielt werden. Manchmal versucht man eine Software zu spät zu aktivieren, dann ist sie längst veraltet und kann ihren Dienst nicht mehr tun. Gelingt bei jeder Software ein update? Was wenn sich der Mensch eigenständig entschließt, gewisse Softwarepakete zu löschen? Dank moderner Psychologie wissen wir, dass alles, was einmal auf die Festplatte des Lebens geladen wurde vorhanden bleibt, auch wenn es oft gelingt, vieles so zu verschachteln, aufzusplitten , in Unterordnern zu verstecken, dass man kaum noch dran kommt.
Wie oft träume ich davon, die Resettaste zu drücken, zu booten, einen Neustart zu versuchen. Als äußerste Möglichkeit löschen manche das Betriebssystem, dann aber entgültig.
Die Kombination aus Hören, Sprechen, Sehen und Fühlen führt zu einem festen Bild, dass unser Gehirn kreiert. Wer aber gibt uns die Garantie, dass dieses Bild real ist, der Realität entspricht und was bitte ist die Realität? Eine schnöde, wahrscheinlich immer schon gestellte Frage. Wenn nur einer die Realität vorgibt, enden wir in der Diktatur. Werden alle Realitäten zugelassen, befinden wir uns im Zustand der Anarchie. Beide Zustände entstehen schon auf kleinstem Raum, jeder der Beziehung lebt, weiß davon ein Lied zu singen. Ach was, die Hälfte reicht schon, schon in uns selbst erleben wir das Spannungsfeld von Diktatur und Anarchie unserer Gefühle.

Und ob wir jetzt über diese Erkenntnisse lachen oder weinen – ja das bleibt jedem selbst überlassen.

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Donnerstag, 4. Dezember 2008
Her mit dem Konsumgüterschein



Es gab einmal ein tausendjähriges Reich, das nach 12 Jahren von der Bildfläche verschwand. Es gab einmal den ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden, der nach 40 Jahren von der Bildfläche verschwand. Es war einmal die Rede vom Ende der Geschichte. Es war einst die Rede vom Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der gesetzmäßig und schlussendlich zum Kommunismus führe.

Es scheint uns Deutschen eigen zu sein, dass wir immer wieder an die Unverrückbarkeit von Etwas glauben wollen. Sei es nun der planmäßige Übergang zum Kommunismus, der Sieg der Marktwirtschaft, die Überlegenheit der Demokratie oder das entgültige Verharren der Spritpreise auf Höchstniveau.

Wer vor Jahren sein Geld aufs Sparbuch zahlte, anstatt mit Aktien spielend leicht Millionär zu werden, wurde mitleidig belächelt. Heute funktioniert der Satz genau andersherum, es sei denn auch die Banken verschwinden im Orkus. Alles ist entweder ganz hervorragend oder ganz katastrophal, so jedenfalls die jeweiligen Kassandrarufe.

Jede Kassandra verfügt über ein Heer von Ratten, die je nach Thema aus ihren Löchern kommen. Sparen oder Investieren, Freiheit oder Überwachung, Kämpfen oder Entwicklungshilfe leisten, Bildungsinvestition oder Steuersenkung, für alles gibt es das jeweilige Rattenheer. Ratten vermehren sich wie die Karnickel, so dass es keine Gefahr gibt, dass das eine oder andere Heer irgendwann ausstirbt.

Viele Ratten nehmen auch die jeweils stärkste Witterung auf und wechseln rechtzeitig in die richtige Armee, oft von heute auf morgen. Wer gestern auf Seiten der Diktatur des Proletariats stand, singt heute das Hohelied der freiheitlichen Demokratie. Wer gestern die Planwirtschaft hochleben ließ, kämpft heute für die soziale Marktwirtschaft, wer gestern nach mehr Markt schrie, dessen Stimme wird heute für den starken Staat heiser geredet und so geht es fort und fort.

Mittlerweile haben sich die meisten damit eingerichtet, die Medien sind ganz vorn dabei. Denn für alles lassen sich Beweise finden, jedem Beweis liegt der Gegenbeweis inne. Die Falsifizierbarkeit feiert fröhliche Urstände. Glaubensgrundsätze zählen nicht mehr, bunte Koalitionen schmieden sich zusammen.

Wohin führt das Ganze? Zu einer Unernsthaftigkeit in ernster Lage. Wer Studierenden Studiengebühren abverlangt, um das Hochschulsystem am Laufen zu halten und gleichzeitig Banken, die selbstverschuldet in die Krise gerutscht sind, mit Steuermilliarden pimpert und dabei von Alternativlosigkeit fabuliert, verliert unter denkenden Menschen jeden Rest an Glaubwürdigkeit. Und zwar dann, wenn er oder sie immer so tut, als sei alles durchdacht, planmäßig und logisch, was getan wird, also sozusagen gesetzmäßig. Und der Citoyen? Er wendet sich ab, angeekelt, belustigt, genervt, verzweifelt, je nach persönlicher Situation.

Jede Krise, jede Veränderung ruft ihre eigenen Propheten auf den Plan, diejenigen, die schon immer wussten, wie es eigentlich geht. Einerseits wird uns gesagt, wie komplex alles sei, andererseits werden einfache Lösungen aus dem Hut gezaubert, die es schon richten sollen.

Jede Krise hat ihre Gewinner. Und jede Gesellschaft verfügt über Spezies, die nicht verlieren können, komme was da wolle. Es ist schon so, dass die einzigen Verlierer die sind, die von ihrer Lohnarbeit gerade so leben und sich dabei keine Polster schaffen können.

Riecht hier jemand Marx? Der belächelte Graubart wird derzeit zumindest recht oft zitiert. Wer versteht ihn? Ich nicht. Noch nicht. Vielleicht wird er neue Religion, dann können wir zumindest wieder glauben. Schönstes Zitat dieser Tage: „Marx war ein brillanter Analytiker, nur seine Schlussfolgerungen waren falsch.“ Das kann man so dahin werfen, es klingt gut. Was waren seine Analysen, was seine Schlussfolgerungen? Lest Marx und dann Keynes und Hobbes, Smith und Erhardt. Irgendwo wird sich schon das Richtige finden.

Die Ossis sollen es uns bitte nicht erklären, wer weiß, was die dann mit reinmischen, ohne das wir es merken. Reicht schon, dass von KITA-Betreuung über Zentralabitur, Polikliniken, längeres gemeinsames Lernen,etc. so vieles wieder reaktiviert wird. Noch gelingt es aber unseren Medien so zu tun, als komme dies alles aus Finnland, Skandinavien oder Timbuktu. Die Behauptung von Dingen bewirkt Wunder. Und Wunder gibt es immer wieder.

Jetzt warte ich erstmal auf meinen Konsumgüterschein. Wie ich das mit meinem protestantischen – dir steht nur zu, was Du Dir selbst erarbeitet hast – Ethos zusammengehen soll? Keine Ahnung.

Und lesen Sie demnächst an dieser Stelle:

Mao: Schlechter Analytiker, guter Durchführer

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Sonntag, 19. Oktober 2008
Thea Dorn trauert
Wer ist Thea Dorn? Eine blondgefärbte Literatursendungsmacherin, die im Spiegel 42/2008 trauert, dass es in der Öffentlichkeit keine Intellektuellen unter 50 gibt.


Thea Dorn reibt sich erstaunt die Augen und fragt, warum gibt es keine Intellektuellen unter 70, die einen Diskurs anstoßen. Liebe Thea Dorn wir leben in der Marktwirtschaft, Stichwort Angebot und Nachfrage. Genauso könnten Sie fragen, warum stellt Langnese keine „Braunen Bär“ mehr her, warum gibt es keine Sänger wie Heintje und wo sind die Männer mit Schnurrbart und Minnipli, bzw. die Frauen mit Wasserwelle im Haar. Andersherum gefragt, freuen Sie sich, dass es immer noch neue Generationen von Gondolieres gibt, von Stierkämpfern und von Prostituierten, alle unter 50?

Oder gibt es die Intellektuellen unter 70, überall, auch in der Öffentlichkeit und Sie erkennen sie nur nicht liebe Frau Dorn, weil sie nicht in Ihr verstaubtes Bild vom Intellektuellen passen. Denn eines haben Sie vergessen zu beschreiben, nämlich, was denn ein Intellektueller ist. Wer hat schon Lust, sich in der Öffentlichkeit wie einer dieser Rasselbären vom Schlage Walsers, Sloterdejks, Broders oder Reich-Ranitzkis zu gebärden.

Diese, Ihre bewunderten Intellektuellen, waren doch immer ein Produkt ihrer Zeit und sie hatten es leicht. Erst wurde 12 Jahre lang gepredigt, alles ist gut, alles wird besser, verbunden mit dem einen oder anderen Opfer. Dann hieß es, tabula rasa, zuviel Weltpolitik ist ungesund, jetzt machen wir mal auf Wirtschaftswachstum. Seid ruhig und nähret Euch redlich. Und die Nummer funktionierte. Mit zwei offensichtlichen Haken. Es wurde etwas viel verdrängt und Deutschland war ganz schön geteilt. Darüber haben sich viele Gedanken gemacht. Die Intellektuellen, die Studenten, manche Arbeiter. Es war die Zeit des großen Experimentierens, aber nur im großen Stil. Blockkonfrontation, Kriege als Testfeld für die Überlegenheit der einen oder anderen Ideologie. Es machte sich das ein oder andere Unwohlsein breit, hierüber galt es nachzudenken und das machten sie, Ihre Intellektuellen. Und die Medien, in ihrer Vielfalt, spielten das Spiel mit. Und so wie es vor fast 500 Jahren Raum gab für die Ideen eines Martin Luther, gab es bis Ende der 1980iger auch in Ost und West den Raum für neue Ideen, geboren aus einem allgemeinen Unwohlsein.
Dieses Unwohlsein wurde nach 1989 für überflüssig erklärt, denn alle hatten sich einem neuen Gefühl zu verpflichten. Auflösung der Blöcke, Wiedervereinigung, Francis Fukujama sprach vom Ende der Geschichte und wir wollten es glauben. Auf jeden Fall war für uns Deutsche ein Kapitel entgültig beendet, die Nachkriegszeit. Viele Menschen waren der Meinung, das sei auch gut so und irgendwann müsse auch mal Schluss sein, kurzes Aufbegehren noch mal bei Walsers Paulskirchenrede und dann den Sack zu.
Ich denke, die Menschen sind heute weiter als jemals zuvor. Jeder ist sein eigener Philosoph, sein eigener Intellektueller. Kaum jemand hat noch das Bedürfnis, sich in die Paulskirche zu stellen. Und warum? Weil es die eine Wahrheit nicht mehr gibt, die Menschen nicht mehr an die eine Wahrheit glauben, nicht mehr darum ringen wollen und es 69 Fernsehsender gibt und das Internet. Zurückgeblieben sind die Zeitungen, die in Zusammenarbeit mit der Politik versuchen einen Mainstream zu basteln, den es auch nur an diesen Orten noch gibt.
Das System ist deines Glückes Schmied, wurde vor 89 in Ost und West gepredigt und für viele traf das auch zu. Heute ist wieder jeder einzelne seines Glückes Schmied, aber nicht jeder Schmied hat Glück. Jede und jeder muss versuchen, auf seine Weise glücklich zu werden und diese orientierungslose Blase in der wir uns bewegen, wird von vielen als gar nicht so schlecht empfunden. Das Leben ist heute so ausdifferenziert und bietet so viele Nischen, dass man niemanden mehr für eine Idee auf die Straße bringt. Einige haben es versucht mit den HARTZ IV-Demonstrationen. Regelmäßig werden Beschäftigte des Gesundheitssystems, Beschäftigte des Agrarsektors, Beschäftigte der Autoindustrie auf die Straße geschickt. Doch sie demonstrieren weder für die 45 Stunden Woche, noch für eine Woche Urlaub oder sonst Existentielles. Sie demonstrieren gegen Statusverlust. Doch den Statusverlust gibt es nicht mehr, denn das System stellt auch die Verlierer ruhig und das gar nicht so schlecht. Wer sich anschaut, wie viele Familien es gibt, die mit Stütze besser leben, als wenn sie arbeiten gingen, weiß, warum alles so ruhig bleibt. Und wer hier die Finger in die Wunde legt, fordert je nach Lager, entweder weniger Stütze oder mehr Geld für die Arbeitnehmer. Der Rest schaut interessiert zu.
Das neoliberalgelangweilte System in dem wir leben, saugt alle Proteste geschickt auf und neutralisiert sie, siehe die jüngste Fernsehpreisverleihung. Wo waren denn die Tumulte der vom senilen Reich-Ranitizki Beschimpften? Nein sie jubelten ihm auch noch zu, er brachte die entsprechende Würze in die Veranstaltung. Welcher Intellektuelle hätte denn da noch Lust, sich zu engagieren? Es gibt zur Zeit drei Sorten von Intellektuellen unter oder um die 50, die eine breitenwirksame Agenda bestimmen und diese Zeitgenossen sind nicht in den Universitäten oder in den Schreibstuben zu finden, sondern auf der Bühne. Die Comedians. Einmal vom Schlage eines Harald Schmidt oder Wiglaf Droste oder vom Schlage eines Oliver Pocher oder die Dadaisten vom Schlage Helge Schneiders. Sie sind die Intellektuellen, die äußerst zeitgemäß die Schwachstellen im System aufzeigen. Was ihnen allen gemein ist, ist ein mehr oder weniger starker Zynismus. Sie wissen, wie ihr Publikum, dass vieles äußerst fragwürdig ist und dass es aber eben keine generalistischen Antworten gibt, keine Finalen „wenn – dann“- Strategien. Niemand glaubt den Zeitungskommentatoren oder Politikern, die von Alternativlosigkeiten sprechen. Der Alltag der Menschen und der Alltag der politisch und medial Handelnden spricht eine andere Sprache.
Die Menschen sind nicht resigniert, sie warten ab. Sie wissen und sehen, dass vieles was passiert so nicht weitergehen kann. Sei es in der Wirtschaft, in der Umwelt, im globalen Agieren. Sie wollen aber keinen mehr, der Ihnen sagt, wie es geht, bzw. die, die es derzeit sagen, haben als Vorbilder ausgedient. Nach 16 Jahren Kohl waren die Menschen müde, aber was danach kam hat sie auch nicht erfrischt, weil all die Handelnden zu alten Kaste gehören, die es nie schaffen, glaubwürdige Schnitte in ihrem Handeln zu fabrizieren. Es lohnt sich in die Vereinigten Staaten zu schauen, wo ein Populist und Heilsversprecher gerade steile Karriere macht. Er hat keinen Schaum vor dem Mund, er spricht die Sprache der Menschen, hat gut Berater, versteht das System der veröffentlichten Meinung und es wird sich zeigen, ob mit einem gewissen Abstand diese Art auch auf Deutschland überschwappt. Nichts anderes löst doch gerade die Karrierepartei um Lafontaine/Gysi bei den Menschen aus. Yes we can. Doch die Folgen sind genauso nebulös wie in den Vereinigten Staaten. Wir leben in einem neuen Experiment, dass noch niemand zu fassen weiß. In einige Jahren lichtet sich der Nebel und dann haben Sie auch ihre Intellektuellen wieder auf der Bühne, liebe Frau Dorn.

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Dienstag, 14. Oktober 2008
Liebermann kotzt nicht mehr
Ich kann gar nicht soviel fressen, wie ich kotzen will. Dieser Satz wird dem Maler Max Liebermann untergejubelt. Sei´s drum. Wenn es dem Mann schon damals so schlecht ging, wie würde er heute reagieren? Wahrscheinlich käme er weder zum Fressen, noch zum Denken, sondern säße mit offenen Mund da und würde gar nichts mehr kapieren.

Gab es zu Liebermanns Zeit noch die Möglichkeit, sich an den Um- und Zuständen zu reiben (sein Ausruf galt einem Aufzug der Nazis), wird heute alles in virtuelle Watte verpackt, gibt es keine Kontroversen mehr, und wenn sind sie Teil des Systems, werden vom System eingesaugt, marginalisiert.

Auf Hysterie folgt Apathie. An Hysterie fehlt es nicht. BSE, Vogelgrippe, Nazis, Linksradikale, Kampfhunde, Kinderschänder, Bankbetrüger, betrügerische Manager, HARTZ IV-Betrüger, Datenklau, Kriege, Kostensteigerungen, Bildungskrise…die Liste lässt sich bis in den frühen Morgen fortsetzen.

Die Hysterie läuft in geordneten Bahnen. Aufregung in den Medien, Demonstrationen auf den Straßen, es passiert was. Dann landet die Hysterie in den Talkshows und dort läuft sie sich tot. Sie wird durch Wortreichtum erstickt. Das Volk versinkt in Apathie, es kann das Ganze nicht mehr hören. Aber keine Sorge, es folgt die nächste Hysterie.

Den Höhepunkt der Perfidie müsste sich das System patentieren lassen. So es noch echte Kritiker gibt, die nicht deshalb kritisieren, weil es en vogue ist, sondern denen die Kritik ein echtes Anliegen ist, werden sie von den Handelnden durch Umarmung erstickt und in das System hineingezwungen.

Jüngstes Beispiel war die Aufregung um Marcel Reich-Ranitzki. Der Greis entschloss sich spontan, den Fernsehpreis auf der entsprechenden Gala nicht anzunehmen, weil…s. Max Liebermann. Reich-Ranitzki beschimpfte das Publikum und das System und wie fiel die Reaktion aus? Buhte man ihn aus, schickte man ihn zum Teufel, verfluchte man ihn als Störenfried auf der schönen Feier? Man feierte ihn. Er, der Kritiker gab der Veranstaltung die richtige Würze. Er brachte Feuer in die Veranstaltung. Sie lieben diese Quertreiber. Sie brauchen diese Quertreiber. Und ihre Liebe macht Ranitzkis Kritik zunichte. Die Personen, die er mit Namen beschimpfte, klatschten besonders begeistert.

Und Moderator Thomas Gottschalk? Reagierte systemkonform, umarmte den alten Mann, lud zur Spontandiskussion ein. Wo? Natürlich in einer der nächsten Talkshows. Wie es jetzt weitergeht ist klar. Das System wird über die Kritik diskutieren, wird abwägen, wird sich über den Beitrag freuen und dann weitermachen wie bisher. Die nächste Hysterie steht vor der Tür.

Und der scharfe Kritiker Reich-Ranitzki? Knickte schon am Abend ein, meldete seine Zweifel an und bot Gottschalk dann das Du an. Der Kongress tanzt weiter.

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Von Zwie- und anderen Spältigkeiten
Übung: Lies die vier kurzen Texte und überlege, wer sie wann und wo verfasst hat und wo sie veröffentlicht wurden. Lausche dann auf Deine inneren Assoziationen. Überlege wie diese Texte zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung bei wem wie ankamen.

"Der Herr Bundeskanzler nutzt den Bericht zur Lage der Nation, um das übliche, uns zum Überdruss bekannte selbstgerechte Imponiergehabe der Bundesrepublik ein weiteres Mal vorzuexerzieren. Jeder Versuch unterblieb, die politischen Verhältnisse im eigenen Land kritisch zu überprüfen."

"Heinz sieht in der Sicherung seines Arbeitsplatzes seine vornehmste Aufgabe als Betriebsrat. Für Otto war die Sicherheit nur dann gewährleistet, wenn er als Betriebsrat eine möglichst nahtlose Verbindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern herstellte. Heinz hat ganz andere Vorstellungen über die Sicherung des Arbeitsplatzes. Er stuft den Arbeitsplatz in eine bestimmte Gefahrenzone ein. Der Trockenspeicher über der Brennzelle erhält z.B. die Note 6. Hier brauche ich erst gar nicht einen Wärmemesser auflegen, sagt Heinz, eine schreckliche Hitze und dazu noch die verdammten Gase. Zum Aufsetzen der Tonrollen brauchst du deine Zeit, ein Arbeiter ist nun mal kein Sportstudent. Nicht auszudenken, du wirst schwindlig und fällst auf diese ekligen Eisenarmarmaturen oder runter in den Gang sagt Heinz."

"75,3 Prozent der Kinder des Sonneberger Gebietes konnten wegen Heimarbeit 1899 nur äußerst selten eine Schule besuchen. 1869 waren von 544 Sonneberger Gemusterten 366 wegen Unterernährung nicht kriegsverwendungsfähig. Ab 1956 erstmals in Sonneberg auf deutschem Boden eine Lehrlingsausbildung der Puppenmacher. Bis 1970 qualifizierten sich weitere sieben aus der Spielzeugindustrie zu Hochschulkadern, 66 besuchten eine Fachschule, drei wurden Techniker, zwanzig legten eine Meister- und 496 die Facharbeiterprüfung ab."

"Ich werde um mich selbst betrogen. Ich rede gar nicht davon, dass ich im Zeitalter der Weltraumforschung sterben werde, ohne auf dem Montmartre spazierengegangen zu sein. […] Der größere Betrug ist: Sie betrügen mich um mich, um meine Eigenschaften. Alles was ich bin, darf ich nicht sein."

Ostliteraten, deren kritische Zustandsbeschreibungen DDR veröffentlicht wurden, ernteten gurgelnde Zustimmung im Westmainstream. Westautoren, die sich kritisch mit dem Zustand BRD auseinandersetzten, ernteten gurgelnde Zustimmung im Ostmainstream. Sie dienten der jeweils offiziellen anderen Seite als treffende pars prototo-Keule. „Seht ihr, es ist wie wir sagen, kritische Geister dort sehen es selbst so, alles ist dort so, alle sind dort so.“ Berichte, die Tolles betonten, galten der jeweils anderen Seite von vornherein als eingefärbt.

Das mag der Mensch, sich die Dinge passend zu sehen. Ich erinnere mich gut an die DDR-Ausbürgerung des Sängers Stephan Krawczyk, kurz vor der Wende 1989. Als er ausgebürgert wurde, ging ein Aufschrei durch die westdeutschen Medien. Wenige Tage später wurde ein Konzert dieses Mannes im Fernsehen ausgestrahlt. Ich fand seine Musik und seine Texte dem prominenten Sendeplatz unangemessen, zumal wir damals ja nur drei Programme hatten, so dass es offensichtlich eine rein politische Entscheidung war, das Konzert an diesem Platz auszustrahlen.


In einem Vortrag vor Pressesprechern schilderte Innenminister Wolfgang Schäuble seine Beobachtung, dass sich in der überschaubaren Zeitungslandschaft vor dreißig Jahren fast jedes Blatt einen eigenen Aufmachertitel leistete. Wie es in der unüberschaubaren Angebotsvielfalt heutiger Tage aussieht, beweist der Blick auf einen beliebigen Zeitungsstand. Weder Zensur, noch sonstige Gegebenheiten zwingen die Herausgeber so zu verfahren. Es handelt sich vielleicht eher um einen unerträglichen Anpassungsdruck, vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass überall in diesen Bereichen gespart werden muss.

Behauptungen scheinen zur Natur des Menschen zu gehören. In der Zeit der gegnerischen Blöcke waren es die zwei schlichten Behauptungen Gut/Schlecht, dem sich alles andere unterordnete. Abweichlertum wurde vom Gegenblock gefeiert, im eigenen Land handelte es sich um Störenfriede, auch wenn deren Ansichten es ab und zu in den Mainstream schafften. Den Gegner schlage ich immer mit der pars prototo Regel: Ein Zustand, alle Zustände. Mich selbst schütze ich immer mit der Ja/Aber Regel oder wie es früher hieß: Dann geh doch in´ Osten.

Heute unterliegen Behauptungen dem Wohl und Wehe der Tagespresse und dem Zeitgeist. Eine beliebige Aufzählung: BSE, AIDS, Vogelgrippe, China-Diktatur, unterdrückte Meinungsfreiheit Russland, Hundebisse, Kindstötungen, Managergier, Bankenpleitiers, Sozialhilfebetrüger, kriminelle Ausländer, unfähige Politiker…Die Liste ließe sich beliebig fortzusetzen. Jede Woche eine neue Sau, jede Woche eine neue Gesetzesankündigung. Wollte ich aus oben genannter Aufzählung den Zustandsbericht einer Gesellschaft zimmern, sähe das heutige Deutschland gar nicht gut aus. Es geht nicht darum, dass oben genanntes nicht stimmte, es geht um die Vehemenz und vorgebliche Wahrheit , mit der diese Themen in die Welt posaunt werden, es geht um den unreflektierten Wahrheitsanspruch, mit dem dies alles vorgetragen wird, ein Wahrheitsanspruch, der viele angeekelt abwinken lässt. Alternativen werden nicht mehr diskutiert. Doch wer hat das Recht des Blickwinkels?

Dazu noch einmal eine Geschichte von Abschiebung. Da ist diese kleine Familie im Thüringischen. Sie stammt ursprünglich aus Vietnam. Die Kinder in Deutschland geboren, besuchen das örtliche Gymnasium. Der Vater wird straffällig. Nein er setzt keine Bank in den Sand, er wird des öfteren beim Diebstahl erwischt. Die Gesetze sind eindeutig. Die ganze Familie wird abgeschoben, den zuständigen Stellen „bleibt keine Alternative“. Die Menschen im Ort verstehen diese Art der Gesetzgebung nicht und gehen auf die Straße. Monate gehen ins Land, die Kinder sind in Vietnam traumatasiert, schließlich wird die Rückkehr ermöglicht. Die einen werden sagen, siehste, im vereinten Deutschland gibt es happy ends. Siehste, sagen die anderen, auch jetzt entledigt sich man seiner Probleme durch Abschiebung. Welches System hat die inhumaneren Züge. Gut, dass hier niemand die pars prototo – Keule rausgeholt hat.

Gregor Gysi stellte auf eben jenem Kongress, auf dem auch Schäuble sprach die Überlegung an, Beamten immer mehrere Zuständigkeitsbereiche zu geben, zum Beispiel Wirtschaft und Familie, so dass bei Entscheidungen automatisch konkurrierende Auswirkungen betrachtet werden müssten. Mir gefällt dieses Bild und es sollte Teil einer jeden Ausbildung sein, in artfremde Bereiche hineinzuschnuppern. Dann würde viele Journalisten, Manager, Lehrer, Politiker anders reden, anders denken. Vielleicht weniger reden und mehr denken.

Quellenangabe Zitate:

1. Rede Otto Schily 1983 zu Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl, in: Vom Zustand der Republik, Verlag Klaus Wagenbach, 1986, S.22

2. Edgar Struchhold „Die Bewährung“, in: Für eine andere Deutschstunde, Asso Verlag, 1973, S.180

3. Landolf Scherzer in: Südthüringer Panorama, Greifenverlag 1973, S 56 – 69

4. Monika Maron in: Flugasche, Fischer Verlag 1996,S.78 erstmals 1981 im Westen veröffentlicht und nur dort.

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Von Stimmen, vom Leben und Dimensionen
Ich höre Stimmen. Je älter ich werde, desto deutlicher höre ich diese Stimmen. Wenn einer Stimmen hört, gilt er als deppert. Mir gefallen diese Stimmen. Sie bieten Denk- und Handlungsalternativen. Die zwei deutlichsten Stimmen sind der Macher und der Mahner. Der Macher hat Ideen, der Macher ist neugierig, manchmal versponnen, aber er kann weiterdenken. Der Macher ist sehr aktiv, meldet sich auch schon mal Nachts, denkt über den Tellerrand hinaus. Der Mahner erfüllt seinen schon vom Namen hergeleiteten Job. Alle Risiken bedacht, alles abgesichert, alle Eventualitäten im Blick. Beide sind eher positiv, optimistisch gestimmt.

Regelmäßig meldet sich der Zweifler zu Wort. Wenn Macher und Mahner einen Gedanken zum positiven Abschluss gebracht haben, meldet sich von hinten gerne der Zweifler. Ist die beschlossene Idee wirklich so gut? Geht es um die Idee oder sind das Ausflüchte, Nebenkriegsschauplätze, Ablenkungsmanöver? Der Zweifler ist wichtig, er bringt viele Vorhaben in die zweite und dritte Lesung. In der Regel halten sich Macher, Mahner und Zweifler aber an die beschlossenen Dinge.

Stimme Nummer vier ist weiblich. Sie spricht regelmäßig, leise und trotzdem dringt sie durch. Sie ist für den emotionalen Bereich zuständig und hat noch keinen Namen. Sie stellt Zusammenhänge her. Wo Macher, Mahner und Zweifler überraschend still sind, erklingt ihre helle Stimme. Sie macht auf meine Schwächen aufmerksam, sie sagt mir, wenn ich etwas aus Angst mache, wenn ich unsicher bin, wenn ich meine Schwächen spüre und diese mich unsicher und zagend machen. Alle vier Stimmen sind wichtig.

All diese Stimmen begleiten mein Leben, wobei gerade die Namenlose mich daran erinnert, nicht zu viel Leben zu planen, sondern auch das Leben zu leben, wobei das Leben ja immer stattfindet, oder? Manchmal absolviere ich den Alltag und spüre das Leben nicht. Viele sind der Meinung, die Summe von zähl- und zeigbaren Faktoren ergebe ein Leben. Beruf, Geld, Bildung, Karriere, Kinder und dann ist das Leben da. Schöner ist es, das Leben zu spüren, das Leben zu lieben, sich zu lieben und erst an zweiter Stelle auf die sichtbaren Faktoren zu setzen. Dies fällt mir regelmäßig schwer.

Stimmen und Lebensblicke, finden erst in der zweiten Dimension des Lebens statt.

Die erste Dimension ist das Leben in der Sphäre, in der man sich das Leben so vorstellt. Da wird Vorgelebtes unreflektiert nachgelebt. Da wird geglaubt was in den Medien steht. Deren Verantwortliche glauben, das was sie berichten, sei das Berichtens-werte. Werte unterliegen einem Mainstream, einer Entwicklung, diese Entwicklung wird nicht hinterfragt. Menschen in der ersten Dimension hören keine Stimmen, weil alles was passiert, so passiert, so passieren muss.

Erst in der zweiten Dimension wendet sich der Blick auf eine andere Ebene, in dem das Selbst eine große Rolle spielt. In der ersten Dimension ist das Ich nur gedacht. Hier ist das Ich die Summe äußerer Umstände und Einflüsse. In der zweiten Ebene gelingt es, sich mit der Erkenntnis auseinanderzusetzen, dass alles was gelebt, gepredigt und gewertet wird, auch um 180 Grad gedreht stattfinden könnte.

Die dritte Ebene ist die Ebene des gereiften Zeitgenossen, der sich der Eindimensionalität unserer Zeit, der vorgegebenen Sprechblasen bewusst ist. Er ist sich bewusst, dass es noch Anderes gibt und aus diesem Wissen zieht er sein Handeln, authentisch und glaubwürdig, sich selbst, seiner Umwelt und dem Leben gegenüber. In der dritten Dimension ist kein Platz für Zorn oder Wut, denn die Erkenntnis ist reif, das Handeln wohlwollend. Die dritte Dimension erreichen nur wenige Menschen.

Erste, zweite oder dritte Dimension können von Alten, Jungen, Frauen, Männern, so genannten Intellektuellen und Maurern erreicht werden.

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