Samstag, 24. Januar 2009
Von Lemmingen, Zynikern und Fanatikern

Die 30iger von heute sind größenwahnsinnig, arrogant, hochstaplerisch, verdruckst, bindungsunfähig, harmoniesüchtig und immer nach der Suche nach dem Echtem. Ihre Realität erleben sie nur als Zwischenstadium, als Fahrstuhlaufenthalt auf dem Weg – ja nach wo eigentlich. Die 30iger sind entgültig in ihrem Urteilen, ihrem Wollen, ihrem Nichtwollen und das Ganze wird ständig neu gemischt, befragt, hinterfragt, abgelehnt, eingefordert. Die 30iger sind nicht wirklich ideologisch, nicht wirklich verlogen, nicht wirklich ablehnend, sie schrammen aber immer ein ganz klein bisschen an der Wirklichkeit vorbei und das nur deshalb, weil sie ihre Wirklichkeit nicht so ganz annehmen und immer auf eine andere Wirklichkeit schielen. Die 30iger von heute schreiben genauso verschrobene Texte wie diesen, voll Larmoyanz, voll kokettierender Selbstgerechtigkeit.

Ja es gibt auch die gebundenen, verheirateten, Kinderhabenen 30jährigen, doch die sind überhaupt nicht echt, nur Abziehbilder ihrer eigenen Rollensuche, im schlimmsten Fall in ihren Rollen aufgehend. Sie werden von den richtigen 30jährigen immer mit Missgunst, Neid, Verachtung, Misstrauen betrachtet. Die richtigen 30jährigen verehren Nick Hornby, Frederic Beigbeder und wenn historisch bewandert, Remarque, Wiechert und Houllebecq. Manche lesen auch Krimis. Aus all ihrem Tun machen sie aber ein Dogma.

Die richtigen 30iger sind bindungsunfähig, lieben aber das Leiden in der Verliebtheit, wobei sie selbst nicht wissen, ob dabei auch das Gegenüber eine Rolle spielt, oder ob es nur um das Gefühl geht. Denn die 30iger sind natürlich egoistisch. Wenn sie sich irgendwie engagieren, dann nur aus Selbstzweck und zur Steigerung des Egos. Denn der 30iger verachtet jede Form von Fanatismus , sei er religiöser, politischer oder humanitärer Natur. Der 30iger sehnt sich nach Gesellschaft und pflegt doch das Image des rast- und ruhelosen Wolfes, gespickt mit Zitaten des Goetheschen Wandlers und Wallers auf Erden, wobei daraus oft ein Schwallen, ein Schwelgen wird. Der 30iger läuft immer Gefahr, sein Umfeld zu durchleuchten und zu definieren. Bloß nicht 1:1 in ein Gefühl. Besser das Gefühl durch Beschreibung auf Abstand, unter Kontrolle zu halten.
Die 30iger sind Zyniker, Satiriker, Sarkasten, sie erfinden eigene Begriffe, eigene Sprachen, sie betreiben Wortakrobatik und programmieren Internetseiten,

- auf denen Warmduscher und Schattenparker-Begriffe gesammelt werden

- auf denen alle Worte aufgelistet werden, die auf nf enden (5 Stück an der Zahl)

- die sich lustig machen über die Fülle bekloppter Aphorismen (Weiße Tauben träumen von der Freiheit, wilde Tauben fliegen, nur wer sich bewegt spürt seine Ketten, Träume nicht Dein Leben, lebe Deinen Traum),

- auf denen Sprachverhunzung betrieben wird (herzlichen Glühstrumpf, das kann ja wohl nicht Warstein, zum Bleistift, bis Danzig, etc.)

30jährige aus dem Westen fahren nicht in den Osten, 30jährige aus dem Osten lassen sich ihren Dialekt wegoperieren.

Sie haben es gemerkt, hier schreibt die Blaupause eines 30jährigen, der wie viele 30iger die Botschaft hat alle zu verspotten, die eine Botschaft haben. Seit drei Jahren bin ich der Prototyp eines 30jährigen. Ich sehe gut aus, ich bin groß genug, ich verliere langsam meine Haare, trage eine Intellektuellenbrille, aus kräftigem Kunststoff, unten randlos. Ich trage gerne dunkel, aber nicht zu auffällig und bloß keine schwarzen Rollis. Ich treibe regelmäßig Sport, habe schon fast den Ansatz eines Waschbrettbauches, ich küsse gut und mir wird eine ungewöhnlich weiche Haut nachgesagt. Ich träume von Sex in allen Variationen, bin im Bett nur guter Durchschnitt und habe bereits eine Therapie hinter mir.

Ich hasse fast nichts mehr als 30jährige, die über sich und ihre Generation reflektieren. Oder genauer gesagt, die das alles für aufschreibenswert oder gar veröffentlichungswert halten. Ich mag das Polarisieren in der Sprache, spreche viel von Hass und Verachtung und dergleichen und habe mich noch nie zu einer anständigen Prügelei durchringen können. Ich habe selbstverständlich Zivildienst gemacht, selbstverständlich gegen den erklärten Wunsch der Familie, ich bin kein Einzelkind, ich komme aus scheinbar geordneten Verhältnissen und ich war schon mal 3 Monate in Indien, ein Trip mit dem man nach wie vor Eindruck schinden kann. Ich schreibe seit einigen Jahren und habe mir jetzt einen gewissen, geschliffenen Stil angewöhnt.

Eigentlich müsste dieser Text gar nicht geschrieben werden, weil all das worüber ein durchschnittlich begabter Mensch so reflektiert schon tausende Mal reflektiert, besprochen und beschrieben wurde. Ich werde also nicht schreiben über die heutige Talkshow-Kultur, ich werde mich nicht lustig machen über das traurige Schicksal der Alt-68iger, ich werde nicht über Kultprodukte wie Nutella, Twix und was auch immer sinnieren. Ich mache ein größeres Fass auf. Ich stelle Ihnen und mir die Frage, wo kommen wir her, wo gehen wir hin.
Müdes Abwinken ? Nein bitte nicht. Denn wir leben in einer Zeit des Scheiterns. Wir sind alle gescheitert. Und wenn der Mensch nicht mit der Gabe des Selbstbetrugs gesegnet wäre, käme es zum Massensuizid.

Es gibt drei Sorten von Menschen: Die Zyniker (oder auch Sarkasten - je nach Tagesform), die Fanatiker und die Lemminge. Die Zyniker sind die ängstlichsten und nicht in der Lage, sich in irgendetwas fallen zu lassen. Sie sind immer auf der Hut, sie verstecken sich hinter geschliffenen Worthülsen, sie verachten alles Etablierte, und manchmal sehnen sie sich auch danach, das bringen sie aber laut und polternd zum Ausdruck. Die Fanatiker sind die, die an das glauben, was sie tun. Sie sind weit von der Realität entfernt. Sie kämpfen gegen Aids in Afrika und anderswo, für Menschenrechte, gegen Sozialhilfebetrug, sie sind überzeugte Christen oder noch überzeugtere Atheisten, sie dulden keinen Widerspruch und wissen nicht, wo man beim Auto den Ölstand kontrolliert. Ohne sie gäbe es kein Brot für die Welt, kein Attac, kein Rettet die Wale und die Delfine, keinen Dieselkatalysator und kein Verachten der Käfighaltung. Sie kommen mit der Welt nicht zurecht und haben sich deshalb in ihrem Bestimmungsraum eingeschlossen. Und die Lemminge ? Sie sind das Salz in der Suppe der Finanzminister, der Auto- und Videorekorderhersteller, der Touristikbranche, der Fitnessbranche. Die Lemminge erst machen Staaten möglich. Die Lemminge sind nicht in der Lage Zyniker oder Sarkasten zu sein, die Fanatiker sind die Unberührbaren und die Zyniker halten sich die Karriere der Lemminge und der Fanatiker immer offen. Sie haben noch die offenste Zukunftsprognose.

Wie wird man ein überzeugter Zyniker? Man muss ein großes Potential an Halbbildung mitbringen, am besten aus allen Bereichen, Sport, Musik, Religion, Genussmittel, Gesetzesübertretungen, Politik, Geschichte. Man sollte mit allem, über das man sich auslässt, Berührungspunkte gehabt haben, dort aber nicht zu sehr oder wenn nur kurze Zeit aufgegangen sein. Man muss frühzeitig die Chance bekommen haben, in vielen Bereichen hinter die Kulissen der Scheinwelten geschaut zu haben. Das immunisiert vor Fanatismus. Wer einmal realisiert hat, dass Bagwhan 100 Rolls Royce fuhr und die von seinen Anhängern finanziert bekam, der bewundert Baghwan maximal noch für seinen Geschäftssinn oder seinen Autogeschmack und stellt bescheiden fest, dass es einem selbst schon reichen würde, einen Rolls Royce zu fahren. Niemals aber würde man Anhänger von Bagwahn, anderen Gurus, man würde nie Sammler von Rabattkarten, kauft ungern Soundtracks von Filmen, auch kein Buch zum Film oder zur Serie und ist auch vor Playstations, Game Cubes, bunt bedruckten Sonnenschutzen für Autos, Markenrucksäcken oder CD Boxen nach der „Best of“ Manier gefeit.

Einer Gefahr unterliegen der Zyniker oder Sarkast allerdings immer: Der Angst vor Leere. Und je leerer das Sein, desto sarkastischer der Zyniker und desto zynischer der Sarkast. Im Gegensatz zum Lemming und zum Fanatiker muss sich der Zyniker seine Welt immer wieder neu erfinden, was auf Dauer natürlich anstrengt. Deshalb träumt der Zyniker auch immer davon „auszusteigen“, ein Akt, dessen Umsetzung aber an seinem Zynismus scheitert. Denn zu viele sind schon ausgestiegen. Zyniker schreiben auch eher Kurzgeschichten oder Gedichte, manchmal auch Lieder, selten aber Romane. Denn Zynismus ist ein flüchtiges Geschäft und bekommt schnell den Geruch des Abgestandenen. Die besten Romanciers sind die Fanatiker, die dann eben fanatische Romanautoren sind. In welchem Metier sie sich tummeln ist egal. Hemingway, Simmel, Konsalik, alles Fanatiker (und Geschäftemacher), was sie aber öffentlich nie zugeben würden, denn sonst wären sie Zyniker.

Wer jetzt aber meint, Zyniker hätten keine Seele, der ist auf dem falschen Pfad. Zyniker haben sogar viel Seele, viele Verletzungen und sie machen sich ständig sorgen um ihr Seelenheil, sind ständig auf der Sinnsuche. Diese Geschichten finden sie hier versammelt. Nicht die abgehobenen äußerlichen, sondern die die sich hinter der Fassade des Zynikers tummeln.

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Und wo
ist der Sarkast? Ist der bereits tot? Nicht nur sprachlich.

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Zynismus von Enddreißigern
Einen Blog schreiben ist das Eine, einen Blog zu kommentieren das andere. Eine Stimme zu hören, direkt zu reagieren ist einfacher, als etwas zu lesen, darüber zu sinieren, zu bedenken, abgelenkt werden, wieder anheben und schließlich ein paar Buchstaben zu Sätzen zu formen. Dies möglichst geschliffen, denn im Netz bleibt alles für immer, insofern muss sich den Enddreißigern ein klares und sauberes Bild der Mid-Forties ergeben.

Zynismus verbirgt in der Tat viel unsichere Seele, schade, denn das Öffnen trägt zu viel mehr Lebensqualität bei. Ich bevorzuge leichte Ironie, aufzubrechen durch Lachen und Scherze, denn dies enthält beide Optionen: schnelles Zurückziehen (ein Vorteil der Krebse, rin in die Muschel, Deckel zu) oder ein klares Sich-Öffnen. Voilà!

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