Donnerstag, 15. Januar 2015
Pegida und Islamistenterror – zurück zu Dschungelcamp und IceBucketChallenge
Pegida und Islamistengefahr haben Ukraine und US-Überwachung in der Berichterstattung abgelöst. Aber auch die aktuellen Themen haben für die meisten Medien ihre Halbwertszeit längst überschritten. Ab morgen regiert sowieso wieder das Dschungelcamp. Nutzen wir den Rest an Aufmerksamkeit, um nüchtern auf die Faktenlage und die sich draus ergebenden Handlungsnotwendigkeiten zu blicken:

Es gibt momentan in Deutschland drei Formen von Überzeugungstätern. Erstens die Abstiegs- oder Fremdenängstlichen, die mit dumpf anmutenden Parolen auf Pegidamärschen mitmarschieren. Zweitens Menschen, die aus beruflichen oder privaten Gründen die multikulturelle offene Gesellschaft zu schätzen gelernt haben und ehrlich entsetzt über Pegida sind. Drittens die objektiv Ausgegrenzten mit Migrationshintergrund oder Konvertiten, die diesem Staat mental oder gar physisch den Rücken gekehrt haben.

All diese drei Gruppen beschreiben Tatsachen, die statistisch vielfach belegt und kommuniziert ist:

- Deutschland ist ein Einwanderungsland
- Die Armuts-Reichtumsschere in Deutschland öffnet sich
- Echte Integrationsangebote fehlen
- Vielfältige Präventions- und Bildungsangebote fehlen

Diese drei Gruppen fühlen sich ehrlich betroffen und vom Establishment von Politik und Medien nicht ernst genommen. Erst Pegida und die Anschläge in Paris haben die Themen ins veröffentlichte Bewusstsein gehoben. Also reagiert das Establishment und wird nicht müde, die Notwendigkeit von Maßnahmen zu betonen. Das geschieht dieser Tage immer in einem Dreiklang von: „Sicherheitsmaßnahmen stärken“, „den Dialog suchen / Veränderung erklären“, „Integrationsangebote verbessern“.

Der Dialog wird öffentlichkeitswirksam in symbolischen Demonstrationen oder auf Konferenzen gesucht. Mit den Erklärungsversuchen sieht es schon dürftiger aus, ein „der Islam gehört auch zu Deutschland, wir brauchen Fachkräfte“, versucht durch ein ökonomisches Argument zu überzeugen, dass dem Einzelnen abstrakt bleibt. Lediglich bei den Sicherheitsmaßnahmen lässt sich schnell und öffentlichkeitswirksam in den Instrumentenkoffer greifen: Vorratsdatenspeicherung in Deutschland einführen, „Gefährdern“ den Pass wegnehmen, kriminelle Ausländer abschieben, deutsche Militärpräsenz im Ausland erhöhen. Botschaft: Seht her, wir handeln.

Dabei wird allerdings am bewährten „Wir/Die-Schema“ festgehalten. „Wir Biodeutsche“ vs. die „Passdeutschen mit Migrationshintergrund“. Wir „westliche Werteträger“ vs. „die Unaufgeklärten, Kriegstreiber, Unbebildeten“.

Vielen Menschen scheinen die Erklärungsmuster zu einfach zu sein. Möglicherweise haben sich Politik und Medien zu lange auf einem Status Quo ausgeruht und kein Interesse gezeigt, nachvollziehbare Antworten auf nachvollziehbare Fragen zu finden. Zu schnell die Worte von Alternativlosigkeit und Verschwörungstheorien, wenn berechtigte Fragen gestellt werden:

Müssen wir eine „unverbrüchliche Freundschaft“ zu einem Land pflegen:

- in dem Menschen über Jahre völkerrechtswidrig in Lagern gefangen
gehalten und/oder gefoltert werden
- das seine „Freunde“ und deren Kanzlerin schamlos ausspioniert
- das mit seinen Interventionen Terror und Wut in vielen Gegenden der
Welt provoziert

Müssen wir die als Spinner, Gutmenschen und „Versteher“ abtun, die die Frage stellen

- ob ein Bündnis wie die NATO in seiner derzeitigen Konstitution und
seinem Expansionsdrang nicht mehr Gefahren als Sicherheit
produziert?
- ob der Reichtum in dieser Gesellschaft nicht anders verteilt werden
könnte
- ob es nicht obzön ist, wenn ein einziger Wirtschaftsführer ein
Jahresgehalt im zweistelligen Millionenbereich erzielt
- ob es normal ist, dass Asylbewerberunterkünfte niemals in
Wohlstandsgebieten eingerichtet werden

Möglicherweise wurde breiten Bevölkerungsschichten zu oft und zu lange abverlangt, sich auf geänderte gesellschaftliche Realitäten einzustellen (HARTZ IV, Rentenkürzung, Zuwanderung), während gleichzeitig die etablierten Parteien und auch viele Medien nicht in der Lage willens waren, ihre Erklärmuster und Blickwinkel zu ändern. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Entscheidungsträger und Kommunikatoren größere Schwierigkeiten haben, sich auf Änderungen einzustellen, als die Bevölkerung. Eine Welt aus den Fugen, wirtschaftliche Herausforderungen in Europa, Globalisierung…Sie scheinen mit dem Rücken an der Wand zu stehen und das Volk anzuschreien: „Nun akzeptiert doch endlich“, anstatt zuzugeben, dass sie einiges selbst nicht verstehen.

Zurück zur Realität dieser Tage. Nach Pegida und Paristerror erleben wir öffentlichkeitswirksame Aktionen, die den Kern des Problems nicht erfassen: Hollande schickt einen Flugzeugträger mit zwei Dutzend Kampfflugzeugen in den Krieg gegen den IS, obwohl dieser in den Vororten der französischen Vorstädte tobt. Die Botschaft dahinter ist ähnlich der von Sarkozy, der die Vorstädte „auskärchern“ wollte: Wir kümmern uns um die weiße Mehrheits- und Mainstreamgesellschaft, der Rest kann sehen wo er bleibt. In Deutschland überwachen wir noch mehr und nehmen Pässe weg und hoffen dadurch Pegida und andere ruhig zu stellen, nicht wahrnehmen wollend, dass es den Pegidas eben nicht um zu viele Islamisten geht, sondern sie in Mehrheit einfach nur verunsichert sind.

Was also ist zu tun? Es gab einmal einen Bundeskanzler, der hat sich auf den Weg gemacht, die Gesellschaft umzubauen und beschritt damit einen harten steinigen Weg. Der Mann hieß Gerhard Schröder und verabschiedete eine Agenda 2010. Es war ein Experiment, das sowohl Gutes als auch Schlechtes produzierte, ihn aber schlussendlich die Regierungsmacht kostete. Dies scheint den aktuell Regierenden ein mahnendes Beispiel zu sein, weshalb sie sich mehr auf vermeintlich publikumswirksame Aktionen einlassen, als eine neue Agenda anzugehen, die da heißen würde:

- Echtes und nicht nur Lippenbekenntnisse zu einem
Einwanderungsland Deutschland
- Milliardenprogramme in Bildung und Integration
- Ehrlichkeit in Bezug auf eine sich wandelnde und damit neu zu
interpretierende Welt
- weg von der Behauptung eines „westlichen“ Wertesystems, zurück zu
einem universalen Wertesystem, bei dem Verstöße klar benannt
werden und nicht nach Himmelsrichtung
- mehr Anstrengungen für Gerechtigkeit bezüglich Artikel 14,
Grundgesetz: „Eigentum verpflichtet…"

Wie wird es dieser Tage in Deutschland weitergehen: Es wird noch einige Talkshows zur Gefahr von Islamisten geben, es wird über die nächste Ausgabe von Titanic und Charlie Hebdo berichtet. Es wird weiter über Pegida und Antipegida berichtet, aber nur noch in Bezug auf Teilnehmerzahlen, denn an für sich ist die Halbwertszeit dieser Themen für die Medien bereits überschritten. Und es ist ja „irgendwie auch alles gesagt“ und zwar von jedem. Oder es gibt weiter spektakuläre Islamistenanschläge. Über die lässt sich gut berichten, wenn es Bilder gibt. Alternativ kracht es noch mal richtig in der Ukraine, dann wendet sich der Focus wieder dahin.

Für die Zwischenzeit gibt ja auch noch Lebensmittelskandale und IceBucketChallenges, alternativ das Dschungelcamp.

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