Freitag, 23. Januar 2009
Kneipe
wartburg, 20:34h
S + U- Bahnhof Warschauer Straße, 28.12.2008
Ich steige einfach aus, fühle mich vom Namen angezogen, vielleicht auch weil ich gerade die Aufzeichnungen eines Polen über Deutschland lese. Es ist unter Null Grad. Ich möchte ein Bier trinken und rauchen. In einer Kneipe! Da darfst Du bei der Wahl des Ortes nicht wählerisch sein. Ich verlasse den Bahnhof, biege von der Hauptstraße rechts ab, vorbei am Inder, am Türken und lande vor der „Hexe“. An der Eingangstür das Piktogramm mit einer nicht durchgestrichenen Zigarette!
In der Kneipe 6,5 Gäste. Der halbe zählt nicht, er liegt neben mir auf einem Sofa und schläft. Ein Rotgefärbter bearbeitet den Spielautomaten, die betrunkene Alte allein an der Theke, raue Stimme. Bier heißt hier Bierchen, die Gäste spricht die Wirtin mit Schätzchen an. Ein gewisser Günther und noch irgendjemand werden aufgefordert Dart zu spielen, von der Wirtin, mit den Worten: „Günter, jetzt bist Du dran mit Deiner großen Klappe.“ Deshalb kann er sich mit seiner großen Klappe nicht weiter auslassen über Treuhand, hohe Diäten und Effenberg „der Arsch, der war doch noch nie aufm Arbeitsamt“, so die Versatzstücke, die ich gleich zu Beginn auffange. Die Wirtin selbst scheint zu ihren besseren Kunden zu gehören. Vor die Wahl gestellt „Deutsches Pilsener“ oder „Löhner Bier“ – oder so ähnlich – empfiehlt sie mir das bessere, weil das andere schon im Glas stinke. Ich bestell das Bessere. Welches am Ende vor mir steht weiß ich nicht. Es schmeckt.
Wie immer in solchen Kneipen ist das Licht etwas schummerig, die Vorhänge vergilbt. Die Wirtin füllt mir den geschmacklosen Kerzenständer mit sieben Teelichtern auf, damit ich lesen kann. Die Alte hat keine eigene Meinung, sagt sie gerade, korrigiert sich aber „klar habe ich eine Meinung, die sage ich Euch aber nicht.“ Die Stimmung ist rau und herzlich, der Folk-Pop im Hintergrund beruhigt.
Mein Nachbar schläft immer noch auf dem Sofa.
Über mir ein Adventskranz. Überall, an den Wänden, an der Decke, über der Theke legitimieren Hexenpuppen den Namen dieser Eckkneipe im Ostteil der Hauptstadt. Die Stimmbänder aller Anwesenden haben sicher schon entspanntere Zeiten gesehen. Die Alte rastet kurz aus, weil sie der Wirtin nicht glaubt, dass in ihrem gerade abgeräumten Schnapsfläschchen nichts mehr drin war. Das Problem wird schnell mit einem neuen Kümmerling gelöst. Ich muss jetzt in dieser Kneipe sitzen, muss mich erstmal wieder erden. Bin nach den Feiertagen ein wenig angestrengt.
Günter soll sich seine Telefonnummer „irgendwohin schieben“, weil er sowieso nie dran geht. Er hatte nach eigenen Worten über Weihnachten fürchterliche Zahnschmerzen.
Der Verlierer bestimmt wer anfängt, „ob beim Skat oder beim Dart. Das ist überall so, überall“, beharrt Günter. Es ist ein lautstarker Thekenstreit ausgebrochen. Muss der Verlierer anfangen oder darf er bestimmen wer anfängt? „Anna will immer als Letzte anfangen, damit sie gewinnt. Die ist raffinierter als ihr denkt.“ Trudi widerspricht Günter, Trudi, die rauchige Alte. Sie wird gleich gemaßregelt. „Du bist hier nur eine einfache Kundin.“ „Günter Du redest Scheiße“, schlägt Trudi zurück. Ein Unbekannter fordert Ruhe. Ergebnis: Trude hat die Schnauze voll und trinkt erstmal einen Kümmerling. Günter schreit: “Halt die Klappe, du olle Kuh.“ Trude befürchtet, dass Günter einen Herzinfarkt bekommt und gibt ihm präventiv recht. Versteht keiner, dass Anna ihre Vorteile nutzt? Nur Günter ? Mein Nachbar schläft weiter. Günter bittet kleinlaut um eine Kopfschmerztablette. Die Kneipe füllt sich. Alle kennen sich.
Einer der Neuankömmlinge: „Hatten Weihnachten eine 4-Kilo-Gans für 16 Euro“ lässt sich von Günter erzählen, was zwischen ihm und Trude vor sich ging. Sein Kommentar: „Ihr seid verrückt, wegen einer solchen Scheiße. Aus dem Alter seid ihr doch raus.“ Bei Uschi gab es Grünkohl zu Weihnachten.
Meine freundliche Wirtin zapft mir noch ein Bier, Trude macht Miau-Geräusche und Günter sieht ein bisschen aus wie Wim Thölke. Die Wirtin informiert mich, dass das Bier noch ein wenig dauert. Trude wirft Günter einen Kuss zu und trinkt noch einen Kümmerling. Mein Nachbar schnarcht leise vor sich hin. Trude sitzt allein, die anderen stehen in der Gruppe. Mein Nachbar erwacht und begrüßt mich mit: Hi! Ich grüße zurück, er schläft wieder ein. Die anderen haben mich noch nicht wahrgenommen. Trudi führt Selbstgespräche und lacht sich kaputt. Dieter wirft angetrunken, aber zielsicher auf die Dartscheibe. Die Musik gefällt, es ist 18.15 Uhr, 28.12.2008 Trudi philosophiert über alte Schachteln und große Schachteln.
Mein Schlafnachbar heißt Conny und hat sich an die Theke geschleppt. Jetzt steht er da und zeigt mir seine totenkopfbedruckte Sweatshirtrückseite. Anna, die Wirtin, droht, solle er noch einmal einschlafen, „mache ich Dich zum Weibchen“. Günter und Dieter spekulieren, er schlafe hier, um Miete und Strom zu sparen. Das junge Pärchen neben mir, beide Raucher, beide Biertrinker, beide schweigen, schweigen, mit den Augen in Richtung Dartscheibe. Sie schweigen sich nicht an, sie schweigen in eine andere Richtung. Ich fühle mich wohl hier.
Neuer Spruch von Trude: „Ich bin zu klein, ihr seid zu alt, ich habe keine Angst.“
In der Hexe spielen vier Gäste Dart. Nach jeweils drei Würfen kehren sie zurück in ihre Gruppe, trinken und diskutieren. Der schweigende Biertrinker berät seine biertrinkende Partnerin in der richtigen Taktik.
Die Hexe ist eine dieser Kneipen, in der irgendwo Bilderrahmen hängen, gefüllt mit Fotokollagen der Stammkunden, an Weihnachten, Silvester, Ostern, was auch immer, immer die gleichen Gesichter, in unterschiedlichen Posen, unterschiedlicher Aufmachung.
Uschi putzt gerade die Klos. Conny trinkt Schwarzbier und wird von Dieter gefragt ob er schon wieder müde ist, „du Pfeife“. Günter, Schlips auf Hemd unter blauem Pullunder ist ruhig geworden. Das Herz? Auch von Trude kommt nichts mehr.
Dieter räumt ab beim Dart. Der Bierschweiger zieht nach, es folgen seine schweigende Partnerin und die Anna, die Wirtin. Dieter nur noch 24 Punkte, es wird auf Null gespielt. Der Bierschweiger ist auf 5, seine Frau auf 4. Was macht jetzt die Wirtin? Hat noch 74 Punkte. Jetzt noch 18. Macht Dieter das Spiel? Zweimal verworfen, auf 13.
Der Bierschweiger hat das Spiel gemacht. Neues Spiel, neues Glück. Es startet bei 501. Das Ziel ist immer Null.
Abschiedsworte der Wirtin: Es hoffe es Dir etwas gefallen bei uns. Es hat! Ich suchte eine Kneipe, wo ich rauchen kann!
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