Dienstag, 14. Oktober 2008
Von Zwie- und anderen Spältigkeiten
wartburg, 18:53h
Übung: Lies die vier kurzen Texte und überlege, wer sie wann und wo verfasst hat und wo sie veröffentlicht wurden. Lausche dann auf Deine inneren Assoziationen. Überlege wie diese Texte zu Zeiten der deutsch-deutschen Teilung bei wem wie ankamen.
"Der Herr Bundeskanzler nutzt den Bericht zur Lage der Nation, um das übliche, uns zum Überdruss bekannte selbstgerechte Imponiergehabe der Bundesrepublik ein weiteres Mal vorzuexerzieren. Jeder Versuch unterblieb, die politischen Verhältnisse im eigenen Land kritisch zu überprüfen."
"Heinz sieht in der Sicherung seines Arbeitsplatzes seine vornehmste Aufgabe als Betriebsrat. Für Otto war die Sicherheit nur dann gewährleistet, wenn er als Betriebsrat eine möglichst nahtlose Verbindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern herstellte. Heinz hat ganz andere Vorstellungen über die Sicherung des Arbeitsplatzes. Er stuft den Arbeitsplatz in eine bestimmte Gefahrenzone ein. Der Trockenspeicher über der Brennzelle erhält z.B. die Note 6. Hier brauche ich erst gar nicht einen Wärmemesser auflegen, sagt Heinz, eine schreckliche Hitze und dazu noch die verdammten Gase. Zum Aufsetzen der Tonrollen brauchst du deine Zeit, ein Arbeiter ist nun mal kein Sportstudent. Nicht auszudenken, du wirst schwindlig und fällst auf diese ekligen Eisenarmarmaturen oder runter in den Gang sagt Heinz."
"75,3 Prozent der Kinder des Sonneberger Gebietes konnten wegen Heimarbeit 1899 nur äußerst selten eine Schule besuchen. 1869 waren von 544 Sonneberger Gemusterten 366 wegen Unterernährung nicht kriegsverwendungsfähig. Ab 1956 erstmals in Sonneberg auf deutschem Boden eine Lehrlingsausbildung der Puppenmacher. Bis 1970 qualifizierten sich weitere sieben aus der Spielzeugindustrie zu Hochschulkadern, 66 besuchten eine Fachschule, drei wurden Techniker, zwanzig legten eine Meister- und 496 die Facharbeiterprüfung ab."
"Ich werde um mich selbst betrogen. Ich rede gar nicht davon, dass ich im Zeitalter der Weltraumforschung sterben werde, ohne auf dem Montmartre spazierengegangen zu sein. […] Der größere Betrug ist: Sie betrügen mich um mich, um meine Eigenschaften. Alles was ich bin, darf ich nicht sein."
Ostliteraten, deren kritische Zustandsbeschreibungen DDR veröffentlicht wurden, ernteten gurgelnde Zustimmung im Westmainstream. Westautoren, die sich kritisch mit dem Zustand BRD auseinandersetzten, ernteten gurgelnde Zustimmung im Ostmainstream. Sie dienten der jeweils offiziellen anderen Seite als treffende pars prototo-Keule. „Seht ihr, es ist wie wir sagen, kritische Geister dort sehen es selbst so, alles ist dort so, alle sind dort so.“ Berichte, die Tolles betonten, galten der jeweils anderen Seite von vornherein als eingefärbt.
Das mag der Mensch, sich die Dinge passend zu sehen. Ich erinnere mich gut an die DDR-Ausbürgerung des Sängers Stephan Krawczyk, kurz vor der Wende 1989. Als er ausgebürgert wurde, ging ein Aufschrei durch die westdeutschen Medien. Wenige Tage später wurde ein Konzert dieses Mannes im Fernsehen ausgestrahlt. Ich fand seine Musik und seine Texte dem prominenten Sendeplatz unangemessen, zumal wir damals ja nur drei Programme hatten, so dass es offensichtlich eine rein politische Entscheidung war, das Konzert an diesem Platz auszustrahlen.
In einem Vortrag vor Pressesprechern schilderte Innenminister Wolfgang Schäuble seine Beobachtung, dass sich in der überschaubaren Zeitungslandschaft vor dreißig Jahren fast jedes Blatt einen eigenen Aufmachertitel leistete. Wie es in der unüberschaubaren Angebotsvielfalt heutiger Tage aussieht, beweist der Blick auf einen beliebigen Zeitungsstand. Weder Zensur, noch sonstige Gegebenheiten zwingen die Herausgeber so zu verfahren. Es handelt sich vielleicht eher um einen unerträglichen Anpassungsdruck, vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass überall in diesen Bereichen gespart werden muss.
Behauptungen scheinen zur Natur des Menschen zu gehören. In der Zeit der gegnerischen Blöcke waren es die zwei schlichten Behauptungen Gut/Schlecht, dem sich alles andere unterordnete. Abweichlertum wurde vom Gegenblock gefeiert, im eigenen Land handelte es sich um Störenfriede, auch wenn deren Ansichten es ab und zu in den Mainstream schafften. Den Gegner schlage ich immer mit der pars prototo Regel: Ein Zustand, alle Zustände. Mich selbst schütze ich immer mit der Ja/Aber Regel oder wie es früher hieß: Dann geh doch in´ Osten.
Heute unterliegen Behauptungen dem Wohl und Wehe der Tagespresse und dem Zeitgeist. Eine beliebige Aufzählung: BSE, AIDS, Vogelgrippe, China-Diktatur, unterdrückte Meinungsfreiheit Russland, Hundebisse, Kindstötungen, Managergier, Bankenpleitiers, Sozialhilfebetrüger, kriminelle Ausländer, unfähige Politiker…Die Liste ließe sich beliebig fortzusetzen. Jede Woche eine neue Sau, jede Woche eine neue Gesetzesankündigung. Wollte ich aus oben genannter Aufzählung den Zustandsbericht einer Gesellschaft zimmern, sähe das heutige Deutschland gar nicht gut aus. Es geht nicht darum, dass oben genanntes nicht stimmte, es geht um die Vehemenz und vorgebliche Wahrheit , mit der diese Themen in die Welt posaunt werden, es geht um den unreflektierten Wahrheitsanspruch, mit dem dies alles vorgetragen wird, ein Wahrheitsanspruch, der viele angeekelt abwinken lässt. Alternativen werden nicht mehr diskutiert. Doch wer hat das Recht des Blickwinkels?
Dazu noch einmal eine Geschichte von Abschiebung. Da ist diese kleine Familie im Thüringischen. Sie stammt ursprünglich aus Vietnam. Die Kinder in Deutschland geboren, besuchen das örtliche Gymnasium. Der Vater wird straffällig. Nein er setzt keine Bank in den Sand, er wird des öfteren beim Diebstahl erwischt. Die Gesetze sind eindeutig. Die ganze Familie wird abgeschoben, den zuständigen Stellen „bleibt keine Alternative“. Die Menschen im Ort verstehen diese Art der Gesetzgebung nicht und gehen auf die Straße. Monate gehen ins Land, die Kinder sind in Vietnam traumatasiert, schließlich wird die Rückkehr ermöglicht. Die einen werden sagen, siehste, im vereinten Deutschland gibt es happy ends. Siehste, sagen die anderen, auch jetzt entledigt sich man seiner Probleme durch Abschiebung. Welches System hat die inhumaneren Züge. Gut, dass hier niemand die pars prototo – Keule rausgeholt hat.
Gregor Gysi stellte auf eben jenem Kongress, auf dem auch Schäuble sprach die Überlegung an, Beamten immer mehrere Zuständigkeitsbereiche zu geben, zum Beispiel Wirtschaft und Familie, so dass bei Entscheidungen automatisch konkurrierende Auswirkungen betrachtet werden müssten. Mir gefällt dieses Bild und es sollte Teil einer jeden Ausbildung sein, in artfremde Bereiche hineinzuschnuppern. Dann würde viele Journalisten, Manager, Lehrer, Politiker anders reden, anders denken. Vielleicht weniger reden und mehr denken.
Quellenangabe Zitate:
1. Rede Otto Schily 1983 zu Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl, in: Vom Zustand der Republik, Verlag Klaus Wagenbach, 1986, S.22
2. Edgar Struchhold „Die Bewährung“, in: Für eine andere Deutschstunde, Asso Verlag, 1973, S.180
3. Landolf Scherzer in: Südthüringer Panorama, Greifenverlag 1973, S 56 – 69
4. Monika Maron in: Flugasche, Fischer Verlag 1996,S.78 erstmals 1981 im Westen veröffentlicht und nur dort.
"Der Herr Bundeskanzler nutzt den Bericht zur Lage der Nation, um das übliche, uns zum Überdruss bekannte selbstgerechte Imponiergehabe der Bundesrepublik ein weiteres Mal vorzuexerzieren. Jeder Versuch unterblieb, die politischen Verhältnisse im eigenen Land kritisch zu überprüfen."
"Heinz sieht in der Sicherung seines Arbeitsplatzes seine vornehmste Aufgabe als Betriebsrat. Für Otto war die Sicherheit nur dann gewährleistet, wenn er als Betriebsrat eine möglichst nahtlose Verbindung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern herstellte. Heinz hat ganz andere Vorstellungen über die Sicherung des Arbeitsplatzes. Er stuft den Arbeitsplatz in eine bestimmte Gefahrenzone ein. Der Trockenspeicher über der Brennzelle erhält z.B. die Note 6. Hier brauche ich erst gar nicht einen Wärmemesser auflegen, sagt Heinz, eine schreckliche Hitze und dazu noch die verdammten Gase. Zum Aufsetzen der Tonrollen brauchst du deine Zeit, ein Arbeiter ist nun mal kein Sportstudent. Nicht auszudenken, du wirst schwindlig und fällst auf diese ekligen Eisenarmarmaturen oder runter in den Gang sagt Heinz."
"75,3 Prozent der Kinder des Sonneberger Gebietes konnten wegen Heimarbeit 1899 nur äußerst selten eine Schule besuchen. 1869 waren von 544 Sonneberger Gemusterten 366 wegen Unterernährung nicht kriegsverwendungsfähig. Ab 1956 erstmals in Sonneberg auf deutschem Boden eine Lehrlingsausbildung der Puppenmacher. Bis 1970 qualifizierten sich weitere sieben aus der Spielzeugindustrie zu Hochschulkadern, 66 besuchten eine Fachschule, drei wurden Techniker, zwanzig legten eine Meister- und 496 die Facharbeiterprüfung ab."
"Ich werde um mich selbst betrogen. Ich rede gar nicht davon, dass ich im Zeitalter der Weltraumforschung sterben werde, ohne auf dem Montmartre spazierengegangen zu sein. […] Der größere Betrug ist: Sie betrügen mich um mich, um meine Eigenschaften. Alles was ich bin, darf ich nicht sein."
Ostliteraten, deren kritische Zustandsbeschreibungen DDR veröffentlicht wurden, ernteten gurgelnde Zustimmung im Westmainstream. Westautoren, die sich kritisch mit dem Zustand BRD auseinandersetzten, ernteten gurgelnde Zustimmung im Ostmainstream. Sie dienten der jeweils offiziellen anderen Seite als treffende pars prototo-Keule. „Seht ihr, es ist wie wir sagen, kritische Geister dort sehen es selbst so, alles ist dort so, alle sind dort so.“ Berichte, die Tolles betonten, galten der jeweils anderen Seite von vornherein als eingefärbt.
Das mag der Mensch, sich die Dinge passend zu sehen. Ich erinnere mich gut an die DDR-Ausbürgerung des Sängers Stephan Krawczyk, kurz vor der Wende 1989. Als er ausgebürgert wurde, ging ein Aufschrei durch die westdeutschen Medien. Wenige Tage später wurde ein Konzert dieses Mannes im Fernsehen ausgestrahlt. Ich fand seine Musik und seine Texte dem prominenten Sendeplatz unangemessen, zumal wir damals ja nur drei Programme hatten, so dass es offensichtlich eine rein politische Entscheidung war, das Konzert an diesem Platz auszustrahlen.
In einem Vortrag vor Pressesprechern schilderte Innenminister Wolfgang Schäuble seine Beobachtung, dass sich in der überschaubaren Zeitungslandschaft vor dreißig Jahren fast jedes Blatt einen eigenen Aufmachertitel leistete. Wie es in der unüberschaubaren Angebotsvielfalt heutiger Tage aussieht, beweist der Blick auf einen beliebigen Zeitungsstand. Weder Zensur, noch sonstige Gegebenheiten zwingen die Herausgeber so zu verfahren. Es handelt sich vielleicht eher um einen unerträglichen Anpassungsdruck, vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass überall in diesen Bereichen gespart werden muss.
Behauptungen scheinen zur Natur des Menschen zu gehören. In der Zeit der gegnerischen Blöcke waren es die zwei schlichten Behauptungen Gut/Schlecht, dem sich alles andere unterordnete. Abweichlertum wurde vom Gegenblock gefeiert, im eigenen Land handelte es sich um Störenfriede, auch wenn deren Ansichten es ab und zu in den Mainstream schafften. Den Gegner schlage ich immer mit der pars prototo Regel: Ein Zustand, alle Zustände. Mich selbst schütze ich immer mit der Ja/Aber Regel oder wie es früher hieß: Dann geh doch in´ Osten.
Heute unterliegen Behauptungen dem Wohl und Wehe der Tagespresse und dem Zeitgeist. Eine beliebige Aufzählung: BSE, AIDS, Vogelgrippe, China-Diktatur, unterdrückte Meinungsfreiheit Russland, Hundebisse, Kindstötungen, Managergier, Bankenpleitiers, Sozialhilfebetrüger, kriminelle Ausländer, unfähige Politiker…Die Liste ließe sich beliebig fortzusetzen. Jede Woche eine neue Sau, jede Woche eine neue Gesetzesankündigung. Wollte ich aus oben genannter Aufzählung den Zustandsbericht einer Gesellschaft zimmern, sähe das heutige Deutschland gar nicht gut aus. Es geht nicht darum, dass oben genanntes nicht stimmte, es geht um die Vehemenz und vorgebliche Wahrheit , mit der diese Themen in die Welt posaunt werden, es geht um den unreflektierten Wahrheitsanspruch, mit dem dies alles vorgetragen wird, ein Wahrheitsanspruch, der viele angeekelt abwinken lässt. Alternativen werden nicht mehr diskutiert. Doch wer hat das Recht des Blickwinkels?
Dazu noch einmal eine Geschichte von Abschiebung. Da ist diese kleine Familie im Thüringischen. Sie stammt ursprünglich aus Vietnam. Die Kinder in Deutschland geboren, besuchen das örtliche Gymnasium. Der Vater wird straffällig. Nein er setzt keine Bank in den Sand, er wird des öfteren beim Diebstahl erwischt. Die Gesetze sind eindeutig. Die ganze Familie wird abgeschoben, den zuständigen Stellen „bleibt keine Alternative“. Die Menschen im Ort verstehen diese Art der Gesetzgebung nicht und gehen auf die Straße. Monate gehen ins Land, die Kinder sind in Vietnam traumatasiert, schließlich wird die Rückkehr ermöglicht. Die einen werden sagen, siehste, im vereinten Deutschland gibt es happy ends. Siehste, sagen die anderen, auch jetzt entledigt sich man seiner Probleme durch Abschiebung. Welches System hat die inhumaneren Züge. Gut, dass hier niemand die pars prototo – Keule rausgeholt hat.
Gregor Gysi stellte auf eben jenem Kongress, auf dem auch Schäuble sprach die Überlegung an, Beamten immer mehrere Zuständigkeitsbereiche zu geben, zum Beispiel Wirtschaft und Familie, so dass bei Entscheidungen automatisch konkurrierende Auswirkungen betrachtet werden müssten. Mir gefällt dieses Bild und es sollte Teil einer jeden Ausbildung sein, in artfremde Bereiche hineinzuschnuppern. Dann würde viele Journalisten, Manager, Lehrer, Politiker anders reden, anders denken. Vielleicht weniger reden und mehr denken.
Quellenangabe Zitate:
1. Rede Otto Schily 1983 zu Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl, in: Vom Zustand der Republik, Verlag Klaus Wagenbach, 1986, S.22
2. Edgar Struchhold „Die Bewährung“, in: Für eine andere Deutschstunde, Asso Verlag, 1973, S.180
3. Landolf Scherzer in: Südthüringer Panorama, Greifenverlag 1973, S 56 – 69
4. Monika Maron in: Flugasche, Fischer Verlag 1996,S.78 erstmals 1981 im Westen veröffentlicht und nur dort.
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