Freitag, 25. November 2011
Correct Betroffen

Neulich hat sich ein Metzger das Leben genommen. Wo war da die Betroffenheit der Metzgerinnung und des Bundesgesundheitsministers? Wo die Forderungen zu schauen, was im Metzgerhandwerk los ist? Ein Schiedsrichter muss es sein, der sich die Pulsadern aufschneidet und dann herrscht Betroffenheit. Eher private Gründe für die Tat? Egal, es stürzen sich so viele in Betroffenheit auf das Thema, dass jeder ein bisschen seine Ansichten verbreiten kann. Stress im Fußball, Mobbing, alles wieder da. Das nennt man Agendasurfing. Es fällt heute schwer, latente Probleme auf normalem Weg ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Ein Prominenter muss ausgebrannt sein und dann wird burn out thematisiert. Und dann stürzt sich jede Organisation, jeder Politiker, jede Lobbygruppe auf das Thema, egal wie passend oder unpassend die Beiträge sind. Es muss aber schnell gehen, denn das Fenster „Aufmerksamkeit“ schließt sich schnell wieder.

Es gab mal eine Nachrichtenwerttheorie, mit deren Hilfe Faktoren benannt wurden, nach denen es ein Thema in die Schlagzeilen schafft. Einer der wichtigsten Faktoren, neben Prominenz, Skandal, Sex, Nähe, Kuriosität war „Relevanz“. Diese Theorie wurde vom Kommunikationswissenschaftler W.Schulz entlarvt: „Die Nachrichtenfaktoren sind nicht Merkmale von Ereignissen, sondern journalistische Hypothesen von Realität.“ Heißt, nicht die Relevanz entscheidet, ob ein Thema ein Thema ist, sondern die Medien.

Lehrer haben keine Lobby. Die Ausfallrate bei Lehrern ist eine der höchsten in allen Berufsgruppen. Betroffenheit? Fehlanzeige. Ich bin kein Lehrer, was aber wäre wenn heraus käme, dass 70 Prozent aller Chemiefacharbeiter die Rente nicht erreichen. Man würde mal fragen, was da los ist in der Chemiebranche. Wie viele Lehrer müssten sich suizidieren, bis jemand aufmerksam wird, bis jemand Betroffenheit zeigt? Solange wird man einen Teufel tun, Suizide bei Lehrern mit dem Beruf und den Rahmenbedingungen in Verbindung zu bringen.

In Deutschland treiben drei Verbrecher, die sich als Nazis bezeichnen, ihr Unwesen. Sie töten in 10 Jahren 10 ausländische Mitbürger. Das ist ein schlimmes Verbrechen, das gehört verfolgt. Was passiert aber? Eine PR-gesteuerte Betroffenheitsorgie bricht los, bevor irgendwas richtiggehend aufgeklärt ist. Medien vergießen Krokodilstränen, weil sie von „Dönermorden“ gesprochen hatten. Ich bin aufgewachsen mit dem Begriff „Reichskristallnacht“. Das Wort löste in mir ein Schaudern ob dieses bösartigen Verbrechens aus. Irgendwann beschloss jemand, dass das ein Euphemismus sei, weil es auch von den Nazis schon so benutzt wurde. Der korrekte Name lautet jetzt Reichspogromnacht. Pogrome gibt und gab es aber viele. Die Einzigartigkeit dieses Verbrechens geht verloren. Das aber nur als Randbemerkung.

Jetzt sind ob der Morde so viele betroffen, dass ich es nicht mehr sein kann, weil ich mich mit vielen dieser „Betroffenen“ partout nicht auf eine Stufe stellen kann. Der Bundespräsident lädt die Opferfamilien ein, Geld soll fließen. Das wäre gar nicht so schlimm, wann hat der Bundespräsident aber andere Opferfamilien eingeladen? Wir sind ein Rechtsstaat, der Rechtsstaat muss seine Arbeit erledigen. Müssen wir jetzt immer jemanden einladen, wenn die Polizeiarbeit versagt, wenn der Rechtsstaat Fehler macht? Die Tür im Bundespräsidialamt ginge nicht mehr zu. Nein, Versagen muss untersucht werden. Keine Frage. Aber wer jetzt alles sein Mütchen kühlt, wer jetzt alles das Leiden der Opfer missbraucht. Der Spiegel startet eine „Braune Armee Fraktion“ Angstkampagne. Die haben sich wahrscheinlich in die Hose gemacht vor Freude, die Texter, als ihnen dieses tolle Bild kam. Dass das aber schief ist, ist allen egal. Jetzt stehen sie wieder da, die Verfassungsschutzreformer, die NPD-Parteiverbieter, die „mehr-Geld-gegen-Rechts“Einforderer, die „rechte Gewalt-linke Gewalt“ Protagonisten. Sie alle haben nur darauf gewartet, ihre Pressestatements mal wieder aus der Schublade rauszuholen. Die Hysterie in den Medien wird zu Ermüdung bei Allen führen und bald ist das Thema dann wieder durch.

Damit ich nicht falsch verstanden werde, jedes dieser Themen ist relevant und Gesinnungstäter und Verbrecher gehören verfolgt, soziale Arbeit gehört ausreichend finanziert und die Existenz einer rechtsextremen Partei ist unerträglich. Es fehlt jedoch die Ernsthaftigkeit im Umgang mit den Themen und deshalb wird jetzt ein Vorkommnis missbraucht von denen, die immer schon irgendwas sagen wollten. Die Medien, die Politik und damit auch die Menschen verlieren vollkommen den Überblick, alles wird in einen Topf geworfen, keiner versteht mehr irgendwas, weil keine wirklich zuhört. Es fehlen Ruhe und Gelassenheit, zuhören und erörtern. Erklär mir einer mal Eurokrise und Rezepte dagegen.

Ist aber alles nicht so schlimm, denn wir haben ja Gutti wieder, ohne Brille mit neuer Frisur und etwas fülliger. Ein super inszenierter Coup, Auftritt in Halifax, Exklusivinterviews und ein Buch. Hier haben die Strategen ganze Arbeit geleistet und nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit sitzt er an einem der nächsten Sonntag bei Günter Jauch.

Es passiert nichts mehr in dieser Republik. Es wird passiert.

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